Kant: AA VIII, Über ein vermeintes Recht ... , Seite 428 |
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| 01 | bedarf, um ein gewöhnlicher zu werden, keines mittleren Grundsatzes. | ||||||
| 02 | Aber in einer sehr zahlreichen Gesellschaft muß man einen neuen Grundsatz | ||||||
| 03 | zu demjenigen noch hinzufügen, den wir hier anführen. Dieser mittlere | ||||||
| 04 | Grundsatz ist: daß die Einzelnen zur Bildung der Gesetze entweder in | ||||||
| 05 | eigener Person oder durch Stellvertreter beitragen können. Wer den | ||||||
| 06 | ersten Grundsatz auf eine zahlreiche Gesellschaft anwenden wollte, ohne | ||||||
| 07 | den mittleren dazu zu nehmen, würde unfehlbar ihr Verderben zuwege | ||||||
| 08 | bringen. Allein dieser Umstand, der nur von der Unwissenheit oder Ungeschicklichkeit | ||||||
| 09 | des Gesetzgebers zeugte, würde nichts gegen den Grundsatz | ||||||
| 10 | beweisen." - Er beschließt S. 125 hiemit: "Ein als wahr anerkannter | ||||||
| 11 | Grundsatz muß also niemals verlassen werden: wie anscheinend auch Gefahr | ||||||
| 12 | dabei sich befindet." [ Und doch hatte der gute Mann den unbedingten | ||||||
| 13 | Grundsatz der Wahrhaftigkeit wegen der Gefahr, die er für die Gesellschaft | ||||||
| 14 | bei sich führe, selbst verlassen: weil er keinen mittleren Grundsatz entdecken | ||||||
| 15 | konnte, der diese Gefahr zu verhüten diente, und hier auch wirklich | ||||||
| 16 | keiner einzuschieben ist. | ||||||
| 17 | Wenn man die Namen der Personen, sowie sie hier aufgeführt | ||||||
| 18 | werden, beibehalten will: so verwechselte "der französische Philosoph" die | ||||||
| 19 | Handlung, wodurch jemand einem anderen schadet ( nocet ), indem er | ||||||
| 20 | die Wahrheit, deren Geständniß er nicht umgehen kann, sagt, mit derjenigen, | ||||||
| 21 | wodurch er diesem Unrecht thut ( laedit ). Es war bloß ein Zufall | ||||||
| 22 | ( casus ), daß die Wahrhaftigkeit der Aussage dem Einwohner des | ||||||
| 23 | Hauses schadete, nicht eine freie That (in juridischer Bedeutung). Denn | ||||||
| 24 | aus seinem Rechte, von einem anderen zu fordern, daß er ihm zum Vortheil | ||||||
| 25 | lügen solle, würde ein aller Gesetzmäßigkeit widerstreitender Anspruch | ||||||
| 26 | folgen. Jeder Mensch aber hat nicht allein ein Recht, sondern sogar die | ||||||
| 27 | strengste Pflicht zur Wahrhaftigkeit in Aussagen, die er nicht umgehen | ||||||
| 28 | kann: sie mag nun ihm selbst oder andern schaden. Er selbst thut also | ||||||
| 29 | hiemit dem, der dadurch leidet, eigentlich nicht schaden, sondern diesen | ||||||
| 30 | verursacht der Zufall. Denn jener ist hierin gar nicht frei, um zu | ||||||
| 31 | wählen: weil die Wahrhaftigkeit (wenn er einmal sprechen muß) unbedingte | ||||||
| 32 | Pflicht ist. - Der "deutsche Philosoph" wird also den Satz (S. | ||||||
| 33 | 124): "Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, | ||||||
| 34 | welcher ein Recht auf die Wahrheit hat," nicht zu seinem Grundsatze | ||||||
| 35 | annehmen: erstlich wegen der undeutlichen Formel desselben, indem Wahrheit | ||||||
| 36 | kein Besitzthum ist, auf welchen dem einen das Recht verwilligt, | ||||||
| 37 | anderen aber verweigert werden könne; dann aber vornehmlich, weil die | ||||||
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