Kant: AA VIII, Verkündigung des nahen ... , Seite 414 |
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Text (Kant):
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| 01 | A. |
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| 02 | Von den physischen Ursachen der Philosophie des Menschen. |
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| 03 | Abgesehen von der den Menschen vor allen anderen Thieren auszeichnenden | ||||||
| 04 | Eigenschaft des Selbstbewußtseins, welcher wegen er ein | ||||||
| 05 | vernünftiges Thier ist (dem auch wegen der Einheit des Bewußtseins | ||||||
| 06 | nur eine Seele beigelegt werden kann); so wird der Hang: sich dieses | ||||||
| 07 | Vermögens zum Vernünfteln zu bedienen, nachgerade methodisch und | ||||||
| 08 | zwar bloß durch Begriffe zu vernünfteln, d. i. zu philosophiren; darauf | ||||||
| 09 | sich auch polemisch mit seiner Philosophie an andern zu reiben, d. i. zu | ||||||
| 10 | disputiren und, weil das nicht leicht ohne Affect geschieht, zu Gunsten | ||||||
| 11 | seiner Philosophie zu zanken, zuletzt in Masse gegen einander (Schule | ||||||
| 12 | gegen Schule als Heer gegen Heer) vereinigt offenen Krieg zu führen; | ||||||
| 13 | - Dieser Hang, sage ich, oder vielmehr Drang wird als eine von den | ||||||
| 14 | wohlthätigen und weisen Veranstaltungen der Natur angesehen werden | ||||||
| 15 | müssen, wodurch sie das große Unglück lebendigen Leibes zu verfaulen | ||||||
| 16 | von den Menschen abzuwenden sucht. | ||||||
| 17 | Von der physischen Wirkung der Philosophie. |
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| 18 | Sie ist die Gesundheit ( status salubritatis ) der Vernunft, als | ||||||
| 19 | Wirkung der Philosophie. - Da aber die menschliche Gesundheit (nach | ||||||
| 20 | dem Obigen) ein unaufhörliches Erkranken und Wiedergenesen ist, so ist | ||||||
| 21 | es mit der bloßen Diät der praktischen Vernunft (etwa einer Gymnastik | ||||||
| 22 | derselben) noch nicht abgemacht, um das Gleichgewicht, welches Gesundheit | ||||||
| 23 | heißt und auf einer Haaresspitze schwebt, zu erhalten; sondern die | ||||||
| 24 | Philosophie muß (therapeutisch) als Arzeneimittel ( materia medica ) | ||||||
| 25 | wirken, zu dessen Gebrauch dann Dispensatorien und Ärzte (welche letztere | ||||||
| 26 | aber auch allein diesen Gebrauch zu verordnen berechtigt sind) erfordert | ||||||
| 27 | werden: wobei die Polizei darauf wachsam sein muß, daß zunftgerechte | ||||||
| 28 | Ärzte und nicht bloße Liebhaber sich anmaßen anzurathen, welche | ||||||
| 29 | Philosophie man studiren solle, und so in einer Kunst, von der sie | ||||||
| 30 | nicht die ersten Elemente kennen, Pfuscherei treiben. | ||||||
| 31 | Ein Beispiel von der Kraft der Philosophie als Arzeneimittels gab | ||||||
| 32 | der stoische Philosoph Posidonius durch ein an seiner eigenen Person | ||||||
| 33 | gemachtes Experiment in Gegenwart des großen Pompejus ( Cicer. tusc. | ||||||
| 34 | quaest. lib. 2, sect. 61 ): indem er durch lebhafte Bestreitung der epikurischen | ||||||
| 35 | Schule einen heftigen Anfall der Gicht überwältigte, sie in die Füße | ||||||
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