Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 287 |
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| 01 | so werden sie dich vermuthlich für deine Ehrlichkeit belohnen; oder geschieht | ||||||
| 02 | das nicht, so wirst du dir einen ausgebreiteten guten Ruf, der dir sehr | ||||||
| 03 | einträglich werden kann, erwerben. Aber alles dieses ist sehr ungewiß. | ||||||
| 04 | Hingegen treten freilich auch manche Bedenklichkeiten ein: Wenn du das | ||||||
| 05 | Anvertraute unterschlagen wolltest, um dich auf einmal aus deinen bedrängten | ||||||
| 06 | Umständen zu ziehen, so würdest du, wenn du geschwinden Gebrauch | ||||||
| 07 | davon machtest, Verdacht auf dich ziehen, wie und durch welche | ||||||
| 08 | Wege du so bald zu einer Verbesserung deiner Umstande gekommen wärest; | ||||||
| 09 | wolltest du aber damit langsam zu Werke gehen, so würde die Noth mittlerweile | ||||||
| 10 | so hoch steigen, daß ihr gar nicht mehr abzuhelfen wäre". - Der | ||||||
| 11 | Wille also nach der Maxime der Glückseligkeit schwankt zwischen seinen | ||||||
| 12 | Triebfedern, was er beschließen solle; denn er sieht auf den Erfolg, und | ||||||
| 13 | der ist sehr ungewiß; es erfordert einen guten Kopf, um sich aus dem | ||||||
| 14 | Gedränge von Gründen und Gegengründen herauszuwickeln und sich in | ||||||
| 15 | der Zusammenrechnung nicht zu betrügen. Dagegen wenn er sich fragt, | ||||||
| 16 | was hier Pflicht sei: so ist er über die sich selbst zu gebende Antwort gar | ||||||
| 17 | nicht verlegen, sondern auf der Stelle gewiß, was er zu thun habe. Ja, | ||||||
| 18 | er fühlt sogar, wenn der Begriff von Pflicht bei ihm etwas gilt, einen Abscheu | ||||||
| 19 | sich auch nur auf den Überschlag von Vortheilen, die ihm aus ihrer | ||||||
| 20 | Übertretung erwachsen könnten, einzulassen, gleich als ob er hier noch die | ||||||
| 21 | Wahl habe. | ||||||
| 22 | Daß also diese Unterschiede (die, wie eben gezeigt worden, nicht so | ||||||
| 23 | fein sind, als Hr. G. meint, sondern mit der gröbsten und leserlichsten | ||||||
| 24 | Schrift in der Seele des Menschen geschrieben sind) sich, wie er sagt, | ||||||
| 25 | gänzlich verlieren, wenn es aufs Handeln ankommt: widerspricht | ||||||
| 26 | selbst der eigenen Erfahrung. Zwar nicht derjenigen, welche die Geschichte | ||||||
| 27 | der aus dem einen oder dem anderen Princip geschöpften Maximen | ||||||
| 28 | darlegt: denn da beweiset sie leider, daß sie größtentheils aus dem letzteren | ||||||
| 29 | (des Eigennutzes) fließen; sondern der Erfahrung, die nur innerlich sein | ||||||
| 30 | kann, daß keine Idee das menschliche Gemüth mehr erhebt und bis zur | ||||||
| 31 | Begeisterung belebt, als eben die von einer die Pflicht über alles verehrenden, | ||||||
| 32 | mit zahllosen Übeln des Lebens und selbst den verführerischsten | ||||||
| 33 | Anlockungen desselben ringenden und dennoch (wie man mit Recht annimmt, | ||||||
| 34 | daß der Mensch es vermöge) sie besiegenden reinen moralischen Gesinnung. | ||||||
| 35 | Daß der Mensch sich bewußt ist, er könne dieses, weil er es soll: das eröffnet | ||||||
| 36 | in ihm eine Tiefe göttlicher Anlagen, die ihm gleichsam einen heiligen | ||||||
| 37 | Schauer über die Größe und Erhabenheit seiner wahren Bestimmung | ||||||
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