Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 286 |
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| 01 | wenn sie auf Begierden und Absichten angewandt werden sollen. Je einfacher, | ||||||
| 02 | schneller und von klaren Vorstellungen entblößter der Schritt | ||||||
| 03 | ist, durch den wir von der Betrachtung der Motive zum wirklichen Handeln | ||||||
| 04 | übergehen: desto weniger ist es möglich, das bestimmte Gewicht, welches | ||||||
| 05 | jedes Motiv hinzu gethan hat, den Schritt so und nicht anders zu leiten, | ||||||
| 06 | genau und sicher zu erkennen" - so muß ich ihm laut und eifrig widersprechen. | ||||||
| 08 | Der Begriff der Pflicht in seiner ganzen Reinigkeit ist nicht allein | ||||||
| 09 | ohne allen Vergleich einfacher, klärer, für jedermann zum praktischen Gebrauch | ||||||
| 10 | faßlicher und natürlicher, als jedes von der Glückseligkeit hergenommene, | ||||||
| 11 | oder damit und mit der Rücksicht auf sie vermengte Motiv | ||||||
| 12 | (welches jederzeit viel Kunst und Überlegung erfordert); sondern auch in | ||||||
| 13 | dem Urtheile selbst der gemeinsten Menschenvernunft, wenn er nur an dieselbe, | ||||||
| 14 | und zwar mit Absonderung, ja sogar in Entgegensetzung mit diesen | ||||||
| 15 | an den Willen der Menschen gebracht wird, bei weitem kräftiger, eindringender | ||||||
| 16 | und Erfolg versprechender, als alle von dem letzteren, eigennützigen | ||||||
| 17 | Princip entlehnte Bewegungsgründe. - Es sei z. B. der Fall: | ||||||
| 18 | daß jemand ein anvertrautes fremdes Gut ( depositum ) in Händen habe, | ||||||
| 19 | dessen Eigenthümer todt ist, und daß die Erben desselben davon nichts | ||||||
| 20 | wissen, noch je etwas erfahren können. Man trage diesen Fall selbst einem | ||||||
| 21 | Kinde von etwa acht oder neun Jahren vor, und zugleich, daß der Inhaber | ||||||
| 22 | dieses Depositums, (ohne sein Verschulden) gerade um diese Zeit in gänzlichen | ||||||
| 23 | Verfall seiner Glücksumstände gerathen, eine traurige, durch Mangel | ||||||
| 24 | niedergedrückte Familie von Frau und Kindern um sich sehe, aus welcher | ||||||
| 25 | Noth er sich augenblicklich ziehen würde, wenn er jenes Pfand sich zueignete; | ||||||
| 26 | zugleich sei er Menschenfreund und wohlthätig, jene Erben aber reich, | ||||||
| 27 | lieblos und dabei im höchsten Grad üppig und verschwenderisch, so daß es | ||||||
| 28 | eben so gut wäre, als ob dieser Zusatz zu ihrem Vermögen ins Meer geworfen | ||||||
| 29 | würde. Und nun frage man, ob es unter diesen Umständen für | ||||||
| 30 | erlaubt gehalten werden könne, dieses Depositum in eigenen Nutzen zu | ||||||
| 31 | verwenden. Ohne Zweifel wird der Befragte antworten: Nein! und statt | ||||||
| 32 | aller Gründe nur bloß sagen können: es ist unrecht, d. i. es widerstreitet | ||||||
| 33 | der Pflicht. Nichts ist klärer als dieses; aber wahrlich nicht so: daß er | ||||||
| 34 | seine eigene Glückseligkeit durch die Herausgabe befördere. Denn | ||||||
| 35 | wenn er von der Absicht auf die letztere die Bestimmung seiner Entschließung | ||||||
| 36 | erwartete, so könnte er z. B. so denken: "Giebst du das bei dir befindliche | ||||||
| 37 | fremde Gut unaufgefordert den wahren Eigenthümern hin, | ||||||
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