Kant: AA VIII, Muthmaßlicher Anfang der ... , Seite 122 |
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| 01 | Die zweite Unzufriedenheit der Menschen trifft die Ordnung | ||||||
| 02 | der Natur in Ansehung der Kürze des Lebens. Man muß sich zwar | ||||||
| 03 | nur schlecht auf die Schätzung des Werths desselben verstehen, wenn man | ||||||
| 04 | noch wünschen kann, daß es länger währen solle, als es wirklich dauret; | ||||||
| 05 | denn das wäre doch nur eine Verlängerung eines mit lauter Mühseligkeiten | ||||||
| 06 | beständig ringenden Spiels. Aber man mag es einer kindischen | ||||||
| 07 | Urtheilskraft allenfalls nicht verdenken, daß sie den Tod fürchtet, ohne das | ||||||
| 08 | Leben zu lieben, und, indem es ihr schwer wird, ihr Dasein jeden einzelnen | ||||||
| 09 | Tag mit leidlicher Zufriedenheit durchzubringen, dennoch der Tage niemals | ||||||
| 10 | genug hat, diese Plage zu wiederholen. Wenn man aber nur bedenkt, | ||||||
| 11 | wie viel Sorge um die Mittel zur Hinbringung eines so kurzen Lebens uns | ||||||
| 12 | quält, wie viel Ungerechtigkeit auf Hoffnung eines künftigen, obzwar so | ||||||
| 13 | wenig daurenden Genusses ausgeübt wird, so muß man vernünftiger Weise | ||||||
| 14 | glauben: daß, wenn die Menschen in eine Lebensdauer von 800 und mehr | ||||||
| 15 | Jahren hinaussehen könnten, der Vater vor seinem Sohne, ein Bruder | ||||||
| 16 | vor dem anderen, oder ein Freund neben dem anderen kaum seines Lebens | ||||||
| 17 | mehr sicher sein würde, und daß die Laster eines so lange lebenden | ||||||
| 18 | Menschengeschlechts zu einer Höhe steigen müßten, wodurch sie keines | ||||||
| 19 | bessern Schicksals würdig sein würden, als in einer allgemeinen Überschwemmung | ||||||
| 20 | von der Erde vertilgt zu werden (V. 12. 13). | ||||||
| 21 | Der dritte Wunsch, oder vielmehr die leere Sehnsucht (denn man | ||||||
| 22 | ist sich bewußt, daß das Gewünschte uns niemals zu Theil werden kann) | ||||||
| 23 | ist das Schattenbild des von Dichtern so gepriesenen goldenen Zeitalters: | ||||||
| 24 | wo eine Entledigung von allem eingebildeten Bedürfnisse, das | ||||||
| 25 | uns die Üppigkeit aufladet, sein soll, eine Genügsamkeit mit dem bloßen | ||||||
| 26 | Bedarf der Natur, eine durchgängige Gleichheit der Menschen, ein immerwährender | ||||||
| 27 | Friede unter ihnen, mit einem Worte der reine Genuß eines | ||||||
| 28 | sorgenfreien, in Faulheit verträumten oder mit kindischem Spiel vertändelten | ||||||
| 29 | Lebens: - eine Sehnsucht, die die Robinsone und die Reisen | ||||||
| 30 | nach den Südseeinseln so reizend macht, überhaupt aber den Überdru | ||||||
| 31 | beweiset, den der denkende Mensch am civilisirten Leben fühlt, wenn er | ||||||
| 32 | dessen Werth lediglich im Genusse sucht und das Gegengewicht der Faulheit | ||||||
| 33 | dabei in Anschlag bringt, wenn etwa die Vernunft ihn erinnert, dem | ||||||
| 34 | Leben durch Handlungen einen Werth zu geben. Die Nichtigkeit dieses | ||||||
| 35 | Wunsches zur Rückkehr in jene Zeit der Einfalt und Unschuld wird hinreichend | ||||||
| 36 | gezeigt, wenn man durch die obige Vorstellung des ursprünglichen | ||||||
| 37 | Zustandes belehrt wird: der Mensch könne sich darin nicht erhalten, darum | ||||||
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