Kant: AA VIII, Recensionen von J. G. Herders ... , Seite 057 |
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| 01 | richtet, wo möglich weiter und bis zu der für den Gebrauch der Vernunft | ||||||
| 02 | an diesem Geschöpfe zweckmäßigen Organisation auszudehnen; wiewohl er | ||||||
| 03 | ihnen hierin mehr Gewicht, als sie je bekommen können, beigelegt hat. Auch | ||||||
| 04 | ist nicht nöthig, daß der, so der letzteren Meinung ist, (wie der Pfarrer | ||||||
| 05 | S. 161 fordert) beweise: daß die menschliche Vernunft bei einer andern | ||||||
| 06 | Form der Organisation auch nur möglich wäre, denn das kann eben | ||||||
| 07 | so wenig jemals eingesehen werden, als daß sie bei der gegenwärtigen | ||||||
| 08 | Form allein möglich sei. Der vernünftige Gebrauch der Erfahrung hat | ||||||
| 09 | auch seine Grenzen. Diese kann zwar lehren, daß etwas so oder so beschaffen | ||||||
| 10 | sei, niemals aber daß es gar nicht anders sein könne; auch | ||||||
| 11 | kann keine Analogie diese unermeßliche Kluft zwischen dem Zufälligen und | ||||||
| 12 | Nothwendigen ausfüllen. In der Recension wurde gesagt: "Die Kleinheit | ||||||
| 13 | der Unterschiede, wenn man die Gattungen ihrer Ähnlichkeit nach | ||||||
| 14 | an einander paßt, ist bei so großer Mannigfaltigkeit eine nothwendige | ||||||
| 15 | Folge eben dieser Mannigfaltigkeit. Nur eine Verwandtschaft unter | ||||||
| 16 | ihnen, da entweder eine Gattung aus der andern oder alle aus einer | ||||||
| 17 | einzigen Originalgattung und etwa aus einem einzigen erzeugenden | ||||||
| 18 | Mutterschooße entsprungen wären, würde auf Ideen führen, die aber so | ||||||
| 19 | ungeheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurück bebt, dergleichen man | ||||||
| 20 | unserm Verfasser, ohne ungerecht zu sein, nicht beimessen darf." Diese | ||||||
| 21 | Worte verführten den Pfarrer zu glauben, als sei in der Recension des | ||||||
| 22 | Werks metaphysische Orthodoxie, mithin Intoleranz anzutreffen; | ||||||
| 23 | und er setzt hinzu: "Die gesunde ihrer Freiheit überlassene | ||||||
| 24 | Vernunft bebt auch vor keiner Idee zurück." Es ist aber nichts | ||||||
| 25 | von allem dem zu fürchten, was er wähnt. Es ist blos der Horror vacui | ||||||
| 26 | der allgemeinen Menschenvernunft, nämlich da zurück zu beben, wo | ||||||
| 27 | man auf eine Idee stößt, bei der sich gar nichts denken läßt, und in | ||||||
| 28 | dieser Absicht möchte wohl der ontologische Codex dem theologischen und | ||||||
| 29 | zwar gerade der Toleranz wegen zum Kanon dienen. Der Pfarrer findet | ||||||
| 30 | überdem das dem Buche beigelegte Verdienst der Freiheit im Denken | ||||||
| 31 | viel zu gemein für einen so berühmten Verfasser. Ohne Zweifel meint er, | ||||||
| 32 | es sei daselbst von der äußeren Freiheit die Rede, die, weil sie von Ort | ||||||
| 33 | und Zeit abhängt, in der That gar kein Verdienst ist. Allein die Recension | ||||||
| 34 | hatte jene innere Freiheit, nämlich die von den Fesseln gewohnter und | ||||||
| 35 | durch die allgemeine Meinung bestärkter Begriffe und Denkungsarten, | ||||||
| 36 | vor Augen; eine Freiheit, die so gar nicht gemein ist, daß selbst die, so | ||||||
| 37 | sich blos zur Philosophie bekennen, nur selten sich zu ihr haben empor | ||||||
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