Kant: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 036 |
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| 01 | einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der | ||||||
| 02 | Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren | ||||||
| 03 | Versuchen ab. | ||||||
| 04 | Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm | ||||||
| 05 | beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat | ||||||
| 06 | sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines | ||||||
| 07 | eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon | ||||||
| 08 | machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines | ||||||
| 09 | vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, | ||||||
| 10 | sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch | ||||||
| 11 | abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren | ||||||
| 12 | Sprung thun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt | ||||||
| 13 | ist. Daher giebt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene | ||||||
| 14 | Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln | ||||||
| 15 | und dennoch einen sicheren Gang zu thun. | ||||||
| 16 | Daß aber ein Publicum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es | ||||||
| 17 | ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da | ||||||
| 18 | werden sich immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern | ||||||
| 19 | des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der | ||||||
| 20 | Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen | ||||||
| 21 | Schätzung des eigenen Werths und des Berufs jedes Menschen selbst zu | ||||||
| 22 | denken um sich verbreiten werden. Besonders ist hiebei: daß das Publicum, | ||||||
| 23 | welches zuvor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie | ||||||
| 24 | hernach selbst zwingt darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner | ||||||
| 25 | Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt | ||||||
| 26 | worden; so schädlich ist es Vorurtheile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an | ||||||
| 27 | denen selbst rächen, die oder deren Vorgänger ihre Urheber gewesen sind. | ||||||
| 28 | Daher kann ein Publicum nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch | ||||||
| 29 | eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism | ||||||
| 30 | und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre | ||||||
| 31 | Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurtheile | ||||||
| 32 | werden eben sowohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen | ||||||
| 33 | Haufens dienen. | ||||||
| 34 | Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und | ||||||
| 35 | zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich | ||||||
| 36 | die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu | ||||||
| 37 | machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonnirt nicht! | ||||||
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