Kant: AA VIII, Recension von Schulz's ... , Seite 012 |
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| 01 | Tugend; aber von dieser abzuweichen ist dem Menschen schlechterdings | ||||||
| 02 | unmöglich, und der, so davon abweicht, ist nicht lasterhaft, sondern aberwitzig. | ||||||
| 03 | Der Mensch, der ein allgemeines Laster beginge, würde wider die | ||||||
| 04 | Selbstliebe handeln, welches unmöglich ist. Folglich ist die Bahn der | ||||||
| 05 | allgemeinen Tugend so eben, so gerade und an beiden Seiten so verzäunt, | ||||||
| 06 | daß alle Menschen schlechterdings drauf bleiben müssen. Es ist nichts | ||||||
| 07 | als die besondre Stimmung jedes Menschen, welche unter ihnen hierin | ||||||
| 08 | einen Unterschied macht; wenn sie ihre Standorte verwechselten, so würde | ||||||
| 09 | einer eben so handeln wie der andere. Moralisch gut oder böse bedeuten | ||||||
| 10 | nichts weiter, als einen höhern oder niedrigern Grad der Vollkommenheit. | ||||||
| 11 | Menschen sind in Vergleichung gegen Engel und diese gegen Gott lasterhaft. | ||||||
| 12 | Daher, weil keine Freiheit ist, alle rächende Strafen ungerecht sind, | ||||||
| 13 | vornehmlich Todesstrafen, an deren Stelle nichts als Erstattung und | ||||||
| 14 | Besserung, keineswegs aber bloße Warnung die Absicht der Strafgesetze | ||||||
| 15 | ausmachen müsse. Lob wegen einer ersprießlichen That ertheilen, zeigt | ||||||
| 16 | wenig Menschenkenntniß an; der Mensch war eben so gut dazu bestimmt | ||||||
| 17 | und aufgezogen, als der Mordbrenner ein Haus anzuzünden. Lob hat nur | ||||||
| 18 | die Absicht, um den Urheber und andre zu ähnlichen guten Thaten aufzumuntern. | ||||||
| 20 | Diese Lehre von der Nothwendigkeit nennt der Herr Verf. eine | ||||||
| 21 | selige Lehre und behauptet, daß durch sie die Sittenlehre allererst ihren | ||||||
| 22 | eigentlichen Werth erhalte, wobei er gelegentlich anmerkt: daß bei Verbrechen | ||||||
| 23 | gewisse Lehrer, die es so leicht vormalen, sich mit Gott zu versöhnen, | ||||||
| 24 | in Anspruch genommen werden sollten. Man kann die gute Absicht | ||||||
| 25 | unseres Verfassers hiebei nicht verkennen. Er will die blos büßende | ||||||
| 26 | und fruchtlose Reue, die doch so oft als an sich versöhnend empfohlen wird, | ||||||
| 27 | weggeschafft wissen und an deren Statt feste Entschließungen zum besseren | ||||||
| 28 | Lebenswandel eingeführt haben; er sucht die Weisheit und Gütigkeit | ||||||
| 29 | Gottes durch den Fortschritt aller seiner Geschöpfe zur Vollkommenheit und | ||||||
| 30 | ewigen Glückseligkeit, obgleich auf verschiedenen Wegen, zu vertheidigen, | ||||||
| 31 | die Religion vom müßigen Glauben zur That zurück zu führen, endlich auch | ||||||
| 32 | die bürgerlichen Strafen menschlicher und für das besondere sowohl als gemeine | ||||||
| 33 | Beste ersprießlicher zu machen. Auch wird die Kühnheit seiner speculativen | ||||||
| 34 | Behauptungen demjenigen nicht so schreckhaft auffallen, dem bekannt | ||||||
| 35 | ist, was Priestley, ein eben so sehr wegen seiner Frömmigkeit als Einsicht | ||||||
| 36 | hochgeachteter englischer Gottesgelehrte, mit unserem Verf. einstimmig | ||||||
| 37 | behauptet, ja noch mit mehr Kühnheit ausgedrückt hat, und was nun schon | ||||||
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