Kant: AA VIII, Recension von Schulz's ... , Seite 011 |
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| 01 | der Vorstellungen, die vordem noch fehlten, und vormalige Wahrheit | ||||||
| 02 | wird in der Folge durch den bloßen Fortgang der Erkenntniß in | ||||||
| 03 | Irrthum verwandelt. Unsere Erkenntniß ist gegen die eines Engels | ||||||
| 04 | lauter Irrthum. Die Vernunft kann nicht irren; jeder Kraft ist ihr Gleis | ||||||
| 05 | vorgezeichnet. Die Verurtheilung der Vernunft durch sich selbst geschieht | ||||||
| 06 | auch nicht alsdann, wenn man urtheilt, sondern hinterher, wenn man | ||||||
| 07 | schon auf einer andern Stelle ist und mehr Kenntnisse erworben hat. | ||||||
| 08 | Ich soll nicht sagen: ein Kind irrt, sondern: es verstehts noch nicht so gut, | ||||||
| 09 | als ers künftig verstehen wird, es ist ein kleineres Urtheil. Weisheit und | ||||||
| 10 | Thorheit, Wissenschaft und Unwissenheit verdienen also nicht Lob, nicht | ||||||
| 11 | Tadel; sie sind blos als allmählige Fortschritte der Natur anzusehen, in | ||||||
| 12 | Ansehung deren ich nicht frei bin. - Was den Willen betrifft, so sind alle | ||||||
| 13 | Neigungen und Triebe in einem einzigen, nämlich der Selbstliebe, | ||||||
| 14 | enthalten, in Ansehung deren aber jeder Mensch seine besondere Stimmung | ||||||
| 15 | hat, die doch auch von einer allgemeinen Stimmung niemals abweichen | ||||||
| 16 | kann. Die Selbstliebe wird jedesmal durch alle Empfindungen | ||||||
| 17 | zusammen bestimmt, doch so, daß entweder die dunklere, oder die deutlichere | ||||||
| 18 | daran den größten Antheil haben. Es giebt also keinen freien | ||||||
| 19 | Willen, sondern dieser steht unter dem strengen Gesetze der Nothwendigkeit; | ||||||
| 20 | doch wenn die Selbstliebe durch gar keine deutliche Vorstellungen, sondern | ||||||
| 21 | blos durch Empfindung bestimmt wird, so nennt man dieses unfreie | ||||||
| 22 | Handlungen. Alle Reue ist nichtig und ungereimt; denn der Verbrecher | ||||||
| 23 | beurtheilt seine That nicht aus seiner vorigen, sondern gegenwärtigen | ||||||
| 24 | Stimmung, die zwar freilich, wenn sie damals statt gefunden hätte, die | ||||||
| 25 | That würde verhindert haben, wovon aber fälschlich vorausgesetzt wird, | ||||||
| 26 | daß sie solche auch hätte verhindern sollen, da sie im vorigen Zustande | ||||||
| 27 | wirklich nicht anzutreffen war. Die Reue ist blos eine mißverstandene | ||||||
| 28 | Vorstellung, wie man künftig besser handeln könne, und in der That | ||||||
| 29 | hat die Natur hiebei keine andere Absicht als den Zweck der Besserung. | ||||||
| 30 | Auflösung der Schwierigkeit, wie Gott der Urheber der Sünde sein könne. | ||||||
| 31 | Tugend und Laster sind nicht wesentlich unterschieden. (Hier | ||||||
| 32 | ist also wiederum der sonst angenommene specifische Unterschied in | ||||||
| 33 | bloßen Unterschied den Graden nach verwandelt.) Tugend ohne | ||||||
| 34 | Laster kann nicht bestehen, und diese sind nur Gelegenheitsgründe besser | ||||||
| 35 | zu werden (also eine Stufe höher zu kommen). Die Menschen können | ||||||
| 36 | sich über das, was sie Tugend nennen, nicht vergleichen, außer über die, | ||||||
| 37 | ohne welche keine menschliche Wohlfahrt möglich ist, d. i. die allgemeine | ||||||
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