Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 329 |
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| 01 | wird, läßt sich nicht a priori aus den uns von ihr bekannten Naturanlagen, | ||||||
| 02 | sondern nur aus der Erfahrung und Geschichte mit so weit gegründeter | ||||||
| 03 | Erwartung schließen, als nöthig ist, an diesem ihrem Fortschreiten | ||||||
| 04 | zum besseren nicht zu verzweifeln, sondern mit aller Klugheit und moralischer | ||||||
| 05 | Vorleuchtung die Annäherung zu diesem Ziele (ein jeder, so viel | ||||||
| 06 | an ihm ist) zu befördern. | ||||||
| 07 | Man kann also sagen: Der erste Charakter der Menschengattung ist | ||||||
| 08 | das Vermögen als vernünftigen Wesens, sich für seine Person sowohl als | ||||||
| 09 | für die Gesellschaft, worin ihn die Natur versetzt, einen Charakter überhaupt | ||||||
| 10 | zu verschaffen; welches aber schon eine günstige Naturanlage und | ||||||
| 11 | einen Hang zum Guten in ihm voraussetzt: weil das Böse (da es Widerstreit | ||||||
| 12 | mit sich selbst bei sich führt und kein bleibendes Princip in sich selbst | ||||||
| 13 | verstattet) eigentlich ohne Charakter ist. | ||||||
| 14 | Der Charakter eines lebenden Wesens ist das, woraus sich seine Bestimmung | ||||||
| 15 | zum voraus erkennen läßt. - Man kann es aber für die Zwecke | ||||||
| 16 | der Natur als Grundsatz annehmen: sie wolle, daß jedes Geschöpf seine | ||||||
| 17 | Bestimmung erreiche, dadurch daß alle Anlagen seiner Natur sich zweckmäßig | ||||||
| 18 | für dasselbe entwickeln, damit, wenn gleich nicht jedes Individuum, | ||||||
| 19 | doch die Species die Absicht derselben erfülle. - Bei vernunftlosen | ||||||
| 20 | Thieren geschieht dieses wirklich und ist Weisheit der Natur; beim Menschen | ||||||
| 21 | aber erreicht es nur die Gattung, wovon wir unter vernünftigen | ||||||
| 22 | Wesen auf Erden nur Eine, nämlich die Menschengattung, kennen und in | ||||||
| 23 | dieser auch nur eine Tendenz der Natur zu diesem Zwecke: nämlich durch | ||||||
| 24 | ihre eigene Thätigkeit die Entwickelung des Guten aus dem Bösen dereinst | ||||||
| 25 | zu Stande zu bringen: ein Prospect, der, wenn nicht Naturrevolutionen | ||||||
| 26 | ihn auf einmal abschneiden, mit moralischer (zur Pflicht der Hinwirkung | ||||||
| 27 | zu jenem Zweck hinreichender) Gewißheit erwartet werden kann. | ||||||
| 28 | - Denn es sind Menschen, d. i. zwar bösgeartete, aber doch mit erfindungsreicher, | ||||||
| 29 | dabei auch zugleich mit einer moralischen Anlage begabte | ||||||
| 30 | vernünftige Wesen, welche die Übel, die sie sich unter einander selbstsüchtig | ||||||
| 31 | anthun, bei Zunahme der Cultur nur immer desto stärker fühlen und, indem | ||||||
| 32 | sie kein anderes Mittel dagegen vor sich sehen, als den Privatsinn | ||||||
| 33 | (Einzelner) dem Gemeinsinn (aller vereinigt), obzwar ungern, einer Disciplin | ||||||
| 34 | (des bürgerlichen Zwanges) zu unterwerfen, der sie sich aber nur | ||||||
| 35 | nach von ihnen selbst gegebenen Gesetzen unterwerfen, durch dies Bewußtsein | ||||||
| 36 | sich veredelt fühlen, nämlich zu einer Gattung zu gehören, die der | ||||||
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