Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 203 |
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| 01 | Ideen, wenn er die Vernunft trifft, heißt Schwärmerei. Das Hinbrüten | ||||||
| 02 | über einer und derselben Idee, die doch keinen möglichen Zweck | ||||||
| 03 | hat, z. B. über den Verlust eines Gatten, der doch ins Leben nicht zurückzurufen | ||||||
| 04 | ist, um in dem Schmerz selbst Beruhigung zu suchen, ist stumme | ||||||
| 05 | Verrücktheit. - Der Aberglaube ist mehr mit dem Wahnsinn, die | ||||||
| 06 | Schwärmerei mit dem Wahnwitz zu vergleichen. Der letztere Kopfkranke | ||||||
| 07 | wird oft auch (mit gemildertem Ausdrucke) exaltirt, auch wohl | ||||||
| 08 | excentrischer Kopf genannt. | ||||||
| 09 | Das Irrereden in Fiebern, oder der mit Epilepsie verwandte Anfall | ||||||
| 10 | von Raserei, welcher bisweilen durch starke Einbildungskraft beim bloßen | ||||||
| 11 | starren Anblick eines Rasenden sympathetisch erregt wird (weshalb es | ||||||
| 12 | auch Leuten von sehr beweglichen Nerven nicht zu rathen ist, ihre Curiosität | ||||||
| 13 | bis zu den Clausen dieser Unglücklichen zu erstrecken), ist als vorübergehend | ||||||
| 14 | noch nicht für Verrückung zu halten. - Was man aber einen | ||||||
| 15 | Wurm nennt (nicht Gemüthskrankheit; denn darunter versteht man gewöhnlich | ||||||
| 16 | schwermüthige Verschrobenheit des inneren Sinnes), ist mehrentheils | ||||||
| 17 | ein an Wahnsinn gränzender Hochmuth des Menschen, dessen Ansinnen, | ||||||
| 18 | daß andere sich selbst in Vergleichung mit ihm verachten sollen, | ||||||
| 19 | seiner eigenen Absicht (wie die eines Verrückten) gerade zuwider ist; indem | ||||||
| 20 | er diese eben dadurch reizt, seinem Eigendünkel auf alle mögliche Art Abbruch | ||||||
| 21 | zu thun, ihn zu zwacken und seiner beleidigenden Thorheit wegen | ||||||
| 22 | dem Gelächter blos zu stellen. - Gelinder ist der Ausdruck von einer | ||||||
| 23 | Grille ( marotte ), die jemand bei sich nährt: ein populär sein sollender | ||||||
| 24 | Grundsatz, der doch nirgend bei Klugen Beifall findet, z. B. von seiner | ||||||
| 25 | Gabe der Ahndungen, Gewissen dem Genius des Sokrates ähnlichen Eingebungen, | ||||||
| 26 | Gewissen in der Erfahrung begründet sein sollenden, obgleich | ||||||
| 27 | unerklärlichen Einflüssen, als der Sympathie, Antipathie, Idiosynkrasie | ||||||
| 28 | ( qualitates occultae ), die ihm gleichsam wie eine Hausgrille im Kopfe | ||||||
| 29 | tschirpt und die doch kein anderer hören kann. - Die gelindeste unter allen | ||||||
| 30 | Abschweifungen über die Gränzlinie des gesunden Verstandes ist das | ||||||
| 31 | Steckenpferd; eine Liebhaberei sich an Gegenständen der Einbildungskraft, | ||||||
| 32 | mit denen der Verstand zur Unterhaltung bloß spielt, als mit einem | ||||||
| 33 | Geschäfte geflissentlich zu befassen, gleichsam ein beschäftigter Müßiggang. | ||||||
| 34 | Für alte, sich in Ruhe setzende und bemittelte Leute ist diese gleichsam in | ||||||
| 35 | die sorglose Kindheit sich wieder zurückziehende Gemüthslage nicht allein | ||||||
| 36 | als eine die Lebenskraft immer rege erhaltende Agitation der Gesundheit | ||||||
| 37 | zuträglich, sondern auch liebenswürdig, dabei aber auch belachenswerth; so | ||||||
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