Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 193 |
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| 01 | Aber auch die, so sprechen und hören können, verstehen darum nicht immer | ||||||
| 02 | sich selbst oder Andere, und an dem Mangel des Bezeichnungsvermögens, | ||||||
| 03 | oder dem fehlerhaften Gebrauch desselben (da Zeichen für Sachen und umgekehrt | ||||||
| 04 | genommen werden) liegt es, vornehmlich in Sachen der Vernunft, | ||||||
| 05 | daß Menschen, die der Sprache nach einig sind, in Begriffen himmelweit | ||||||
| 06 | von einander abstehen; welches nur zufälligerweise, wenn ein jeder nach | ||||||
| 07 | dem seinigen handelt, offenbar wird. | ||||||
| 08 | B. Zweitens: was die natürlichen Zeichen betrifft, so ist der Zeit | ||||||
| 09 | nach das Verhältniß der Zeichen zu den bezeichneten Sachen entweder | ||||||
| 10 | demonstrativ, oder rememorativ, oder prognostisch. | ||||||
| 11 | Der Pulsschlag bezeichnet dem Arzt den gegenwärtigen fieberhaften | ||||||
| 12 | Zustand des Patienten, wie der Rauch das Feuer. Die Reagentien | ||||||
| 13 | entdecken dem Chemiker die im Wasser befindlichen verborgenen Stoffe, | ||||||
| 14 | sowie die Wetterfahne den Wind u. s. w. Ob aber das Erröthen das | ||||||
| 15 | Bewußtsein der Schuld, oder vielmehr ein zartes Ehrgefühl, auch nur | ||||||
| 16 | eine Zumuthung von etwas, dessen man sich zu schämen hätte, erdulden | ||||||
| 17 | zu müssen, verrathe, ist in vorkommenden Fällen ungewiß. | ||||||
| 18 | Grabhügel und Mausoleen sind Zeichen des Andenkens an Verstorbene; | ||||||
| 19 | eben so, oder auch zum immerwährenden Andenken der vormaligen | ||||||
| 20 | großen Macht eines Königs Pyramiden. - Die Muschelschichten | ||||||
| 21 | in weit von der See gelegenen Landgegenden, oder die Löcher der Pholaden | ||||||
| 22 | in den hohen Alpen, oder vulkanische Überbleibsel, wo jetzt kein Feuer aus | ||||||
| 23 | der Erde hervorbricht, bezeichnen uns den alten Zustand der Welt und | ||||||
| 24 | begründen eine Archäologie der Natur: freilich nicht so anschaulich, als | ||||||
| 25 | die vernarbten Wunden des Kriegers. - Die Ruinen von Palmyra, | ||||||
| 26 | Baalbek und Persepolis sind sprechende Denkzeichen des Kunstzustandes | ||||||
| 27 | alter Staaten und traurige Merkmale vom Wechsel aller Dinge. | ||||||
| 28 | Die prognostischen Zeichen interessiren unter allen am meisten: | ||||||
| 29 | weil in der Reihe der Veränderungen die Gegenwart nur ein Augenblick | ||||||
| 30 | ist, und der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens das Gegenwärtige | ||||||
| 31 | nur um der künftigen Folgen willen ( ob futura consequentia ) beherzigt | ||||||
| 32 | und auf diese vorzüglich aufmerksam macht. - In Ansehung künftiger | ||||||
| 33 | Weltbegebenheiten findet sich die sicherste Prognose in der Astronomie; | ||||||
| 34 | sie ist aber kindisch und phantastisch, wenn die Sterngestalten, Verbindungen | ||||||
| 35 | und veränderte Planetenstellungen als allegorische Schriftzeichen | ||||||
| 36 | am Himmel von bevorstehenden Schicksalen des Menschen (in der Astrologia | ||||||
| 37 | iudiciaria ) vorgestellt werden. | ||||||
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