Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 159 |
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| 01 | Luft (den Ofendunst, den Gestank der Moräste und Äser) einzuathmen, | ||||||
| 02 | oder auch faulende Sachen zur Nahrung zu brauchen, ist dieser Sinn nicht | ||||||
| 03 | unwichtig. - Eben dieselbe Wichtigkeit hat auch der zweite Genußsinn, | ||||||
| 04 | nämlich der Sinn des Geschmacks, aber mit dem ihm eigenthümlichen | ||||||
| 05 | Vorzuge, daß dieser die Geselligkeit im Genießen befördert, was der vorige | ||||||
| 06 | nicht thut, überdem auch daß er schon bei der Pforte des Eingangs der | ||||||
| 07 | Speisen in den Darmcanal die Gedeihlichkeit derselben zum voraus beurtheilt; | ||||||
| 08 | denn diese ist mit der Annehmlichkeit in diesem Genusse, als | ||||||
| 09 | einer ziemlich sicheren Vorhersagung der letzteren, wohl verbunden, wenn | ||||||
| 10 | Üppigkeit und Schwelgerei den Sinn nur nicht verkünstelt hat. - Worauf | ||||||
| 11 | der Appetit bei Kranken fällt, das pflegt ihnen auch gemeiniglich gleich | ||||||
| 12 | einer Arznei gedeihlich zu sein. - Der Geruch der Speisen ist gleichsam | ||||||
| 13 | ein Vorgeschmack, und der Hungrige wird durch den Geruch von | ||||||
| 14 | beliebten Speisen zum Genusse eingeladen, so wie der Satte dadurch abgewiesen | ||||||
| 15 | wird. | ||||||
| 16 | Giebt es ein Vicariat der Sinne, d. i. einen Gebrauch des einen | ||||||
| 17 | Sinnes, um die Stelle eines andern zu vertreten? Dem Tauben kann | ||||||
| 18 | man, wenn er nur sonst hat hören können, durch die Geberdung, also | ||||||
| 19 | durch die Augen desselben, die gewohnte Sprache ablocken; wozu auch die | ||||||
| 20 | Beobachtung der Bewegung seiner Lippen gehört, ja durch das Gefühl | ||||||
| 21 | der Betastung bewegter Lippen im Finstern kann eben dasselbe geschehen. | ||||||
| 22 | Ist er aber taub geboren, so muß der Sinn des Sehens aus der Bewegung | ||||||
| 23 | der Sprachorgane die Laute, die man ihm bei seiner Belehrung | ||||||
| 24 | abgelockt hat, in ein Fühlen der eigenen Bewegung der Sprachmuskeln | ||||||
| 25 | desselben verwandeln; wiewohl er dadurch nie zu wirklichen Begriffen | ||||||
| 26 | kommt, weil die Zeichen, deren er dazu bedarf, keiner Allgemeinheit fähig | ||||||
| 27 | sind. - Der Mangel eines musikalischen Gehörs, obgleich das blos physische | ||||||
| 28 | unverletzt ist, da das Gehör zwar Laute, aber nicht Töne vernehmen, der | ||||||
| 29 | Mensch also zwar sprechen, aber nicht singen kann, ist eine schwer zu | ||||||
| 30 | erklärende Verkrüppelung; so wie es Leute giebt, die sehr gut sehen, aber | ||||||
| 31 | keine Farben unterscheiden können, und denen alle Gegenstände wie im | ||||||
| 32 | Kupferstich erscheinen. | ||||||
| 33 | Welcher Mangel oder Verlust eines Sinnes ist wichtiger, der des | ||||||
| 34 | Gehörs oder des Gesichts? - Der erstere ist, wenn er angeboren wäre, | ||||||
| 35 | unter allen am wenigsten ersetzlich; ist er aber nur später, nachdem der | ||||||
| 36 | Gebrauch der Augen, es sei zur Beobachtung des Geberdenspiels, oder | ||||||
| 37 | noch unmittelbarer durch Lesung einer Schrift schon cultivirt worden, erfolgt: | ||||||
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