Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 136 |
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| 01 | ins Auge, als auch ohne jene künstliche Werkzeuge sich auf der Netzhaut | ||||||
| 02 | gemalt haben würden, sondern breiten sie nur mehr aus, um uns ihrer | ||||||
| 03 | bewußt zu werden. - Eben das gilt von den Empfindungen des Gehörs, | ||||||
| 04 | wenn der Musiker mit zehn Fingern und beiden Füßen eine Phantasie auf | ||||||
| 05 | der Orgel spielt und wohl auch noch mit einem neben ihm Stehenden | ||||||
| 06 | spricht, wo so eine Menge Vorstellungen in wenig Augenblicken in der | ||||||
| 07 | Seele erweckt werden, deren jede zu ihrer Wahl überdem noch ein besonderes | ||||||
| 08 | Urtheil über die Schicklichkeit bedurfte, weil ein einziger der | ||||||
| 09 | Harmonie nicht gemäßer Fingerschlag sofort als Mißlaut vernommen | ||||||
| 10 | werden würde, und doch das Ganze so ausfällt, daß der frei phantasirende | ||||||
| 11 | Musiker oft wünschen möchte, manches von ihm glücklich ausgeführte | ||||||
| 12 | Stück, dergleichen er vielleicht sonst mit allem Fleiß nicht so gut zu Stande | ||||||
| 13 | zu bringen hofft, in Noten aufbehalten zu haben. | ||||||
| 14 | So ist das Feld dunkler Vorstellungen das größte im Menschen. | ||||||
| 15 | Weil es aber diesen nur in seinem passiven Theile als Spiel der Empfindungen | ||||||
| 16 | wahrnehmen läßt, so gehört die Theorie derselben doch nur zur | ||||||
| 17 | physiologischen Anthropologie, nicht zur pragmatischen, worauf es hier | ||||||
| 18 | eigentlich abgesehen ist. | ||||||
| 19 | Wir spielen nämlich oft mit dunkelen Vorstellungen und haben ein | ||||||
| 20 | Interesse beliebte oder unbeliebte Gegenstände vor der Einbildungskraft | ||||||
| 21 | in Schatten zu stellen; öfter aber noch sind wir selbst ein Spiel dunkeler | ||||||
| 22 | Vorstellungen, und unser Verstand vermag sich nicht wider die Ungereimtheiten | ||||||
| 23 | zu retten, in die ihn der Einfluß derselben versetzt, ob er sie gleich | ||||||
| 24 | als Täuschung anerkennt. | ||||||
| 25 | So ist es mit der Geschlechtsliebe bewandt, so fern sie eigentlich nicht | ||||||
| 26 | das Wohlwollen, sondern vielmehr den Genuß ihres Gegenstandes beabsichtigt. | ||||||
| 27 | Wie viel Witz ist nicht von jeher verschwendet worden, einen | ||||||
| 28 | dünnen Flor über das zu werfen, was zwar beliebt ist, aber doch den | ||||||
| 29 | Menschen mit der gemeinen Thiergattung in so naher Verwandtschaft sehen | ||||||
| 30 | läßt, daß die Schamhaftigkeit dadurch aufgefordert wird, und die Ausdrücke | ||||||
| 31 | in feiner Gesellschaft nicht unverblümt, wenn gleich zum Belächeln | ||||||
| 32 | durchscheinend genug, hervortreten dürfen. - Die Einbildungskraft mag | ||||||
| 33 | hier gern im Dunkeln spaziren, und es gehört immer nicht gemeine Kunst | ||||||
| 34 | dazu, wenn, um den Cynism zu vermeiden, man nicht in den lächerlichen | ||||||
| 35 | Purism zu verfallen Gefahr laufen will. | ||||||
| 36 | Andererseits sind wir auch oft genug das Spiel dunkeler Vorstellungen, | ||||||
| 37 | welche nicht verschwinden wollen, wenn sie gleich der Verstand | ||||||
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