| Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 424 | |||||||
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| 01 | nicht in seiner Hundewuth (zu welcher er schon den Anfall fühlte) andere | ||||||
| 02 | Menschen auch unglücklich machte; es frägt sich, ob er damit unrecht that. | ||||||
| 03 | Wer sich die Pocken einimpfen zu lassen beschließt, wagt sein Leben | ||||||
| 04 | aufs Ungewisse, ob er es zwar thut, um sein Leben zu erhalten, und | ||||||
| 05 | ist so fern in einem weit bedenklicheren Fall des Pflichtgesetzes, als der | ||||||
| 06 | Seefahrer, welcher doch wenigstens den Sturm nicht macht, dem er sich | ||||||
| 07 | anvertraut, statt dessen jener die Krankheit, die ihn in Todesgefahr bringt, | ||||||
| 08 | sich selbst zuzieht. Ist also die Pockeninoculation erlaubt? | ||||||
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| 12 | So wie die Liebe zum Leben von der Natur zur Erhaltung der Person, | ||||||
| 13 | so ist die Liebe zum Geschlecht von ihr zur Erhaltung der Art bestimmt; | ||||||
| 14 | d. i. eine jede von beiden ist Naturzweck, unter welchem man | ||||||
| 15 | diejenige Verknüpfung der Ursache mit einer Wirkung versteht, in welcher | ||||||
| 16 | jene, auch ohne ihr dazu einen Verstand beizulegen, diese doch nach der | ||||||
| 17 | Analogie mit einem solchen, also gleichsam absichtlich Menschen hervorbringend | ||||||
| 18 | gedacht wird. Es frägt sich nun, ob der Gebrauch des letzteren | ||||||
| 19 | Vermögens in Ansehung der Person selbst, die es ausübt, unter einem | ||||||
| 20 | einschränkenden Pflichtgesetz stehe, oder ob diese, auch ohne jenen Zweck zu | ||||||
| 21 | beabsichtigen, den Gebrauch ihrer Geschlechtseigenschaften der bloßen thierischen | ||||||
| 22 | Lust zu widmen befugt sei, ohne damit einer Pflicht gegen sich selbst | ||||||
| 23 | zuwider zu handeln. - In der Rechtslehre wird bewiesen, daß der Mensch | ||||||
| 24 | sich einer anderen Person dieser Lust zu gefallen ohne besondere Einschränkung | ||||||
| 25 | durch einen rechtlichen Vertrag nicht bedienen könne; wo dann | ||||||
| 26 | zwei Personen wechselseitig einander verpflichten. Hier aber ist die Frage: | ||||||
| 27 | ob in Ansehung dieses Genusses eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst | ||||||
| 28 | obwalte, deren Übertretung eine Schändung (nicht blos Abwürdigung) | ||||||
| 29 | der Menschheit in seiner eigenen Person sei. Der Trieb zu jenem wird | ||||||
| 30 | Fleischeslust (auch Wohllust schlechthin) genannt. Das Laster, welches | ||||||
| 31 | dadurch erzeugt wird, heißt Unkeuschheit, die Tugend aber in Ansehung | ||||||
| 32 | dieser sinnlichen Antriebe wird Keuschheit genannt, die nun hier als | ||||||
| 33 | Pflicht des Menschen gegen sich selbst vorgestellt werden soll. Unnatürlich | ||||||
| 34 | heißt eine Wohllust, wenn der Mensch dazu nicht durch den wirklichen | ||||||
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