| Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 402 | |||||||
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| 01 | Anderen Menschen nach unserem Vermögen wohlzuthun ist Pflicht, | ||||||
| 02 | man mag sie lieben oder nicht, und diese Pflicht verliert nichts an ihrem | ||||||
| 03 | Gewicht, wenn man gleich die traurige Bemerkung machen müßte, daß | ||||||
| 04 | unsere Gattung, leider! dazu nicht geeignet ist, daß, wenn man sie näher | ||||||
| 05 | kennt, sie sonderlich liebenswürdig befunden werden dürfte. - Menschenha | ||||||
| 06 | aber ist jederzeit häßlich, wenn er auch ohne thätige Anfeindung | ||||||
| 07 | blos in der gänzlichen Abkehrung von Menschen (der separatistischen | ||||||
| 08 | Misanthropie) bestände. Denn das Wohlwollen bleibt immer Pflicht, | ||||||
| 09 | selbst gegen den Menschenhasser, den man freilich nicht lieben, aber ihm | ||||||
| 10 | doch Gutes erweisen kann. | ||||||
| 11 | Das Laster aber am Menschen zu hassen ist weder Pflicht noch pflichtwidrig, | ||||||
| 12 | sondern ein bloßes Gefühl des Abscheues vor demselben, ohne daß | ||||||
| 13 | der Wille darauf, oder umgekehrt dieses Gefühl auf den Willen einigen | ||||||
| 14 | Einfluß hätte. Wohlthun ist Pflicht. Wer diese oft ausübt, und es gelingt | ||||||
| 15 | ihm mit seiner wohlthätigen Absicht, kommt endlich wohl gar dahin, | ||||||
| 16 | den, welchem er wohl gethan hat, wirklich zu lieben, wenn es also heißt: | ||||||
| 17 | du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, so heißt das nicht: du | ||||||
| 18 | sollst unmittelbar (zuerst) lieben und vermittelst dieser Liebe (nachher) | ||||||
| 19 | wohlthun, sondern: thue deinem Nebenmenschen wohl, und dieses Wohlthun | ||||||
| 20 | wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung zum Wohlthun | ||||||
| 21 | überhaupt) in dir bewirken! | ||||||
| 22 | Die Liebe des Wohlgefallens ( amor complacentiae ) würde also | ||||||
| 23 | allein direct sein. Zu dieser aber (als einer unmittelbar mit der Vorstellung | ||||||
| 24 | der Existenz eines Gegenstandes verbundenen Lust) eine Pflicht zu | ||||||
| 25 | haben, d. i. zur Lust woran genöthigt werden zu müssen, ist ein Widerspruch. | ||||||
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| 29 | Achtung ( reverentia ) ist eben sowohl etwas blos Subjectives; ein | ||||||
| 30 | Gefühl eigener Art, nicht ein Urtheil über einen Gegenstand, den zu bewirken | ||||||
| 31 | oder zu befördern es eine Pflicht gäbe. Denn sie könnte, als | ||||||
| 32 | Pflicht betrachtet, nur durch die Achtung, die wir vor ihr haben, vorgestellt | ||||||
| 33 | werden. Zu dieser also eine Pflicht zu haben würde so viel sagen, | ||||||
| 34 | als zur Pflicht verpflichtet werden. - Wenn es demnach heißt: Der | ||||||
| 35 | Mensch hat eine Pflicht der Selbstschätzung, so ist das unrichtig gesagt, | ||||||
| 36 | und es müßte vielmehr heißen: das Gesetz in ihm zwingt ihm unvermeidlich | ||||||
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