| Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 371 | |||||||
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| 01 | Wissens hat noch kein Philosoph den paradoxesten aller paradoxen Sätze | ||||||
| 02 | anerkannt, den Satz: daß die bloße Idee der Oberherrschaft mich nöthigen | ||||||
| 03 | soll, jedem, der sich zu meinem Herrn aufwirft, als meinem Herrn zu gehorchen, | ||||||
| 04 | ohne zu fragen, wer ihm das Recht gegeben, mir zu befehlen. | ||||||
| 05 | Daß man Oberherrschaft und Oberhaupt anerkennen und man Diesen | ||||||
| 06 | oder Jenen, dessen Dasein nicht einmal a priori gegeben ist, a priori für | ||||||
| 07 | seinen Herrn halten soll, das soll einerlei sein?" - Nun, hiebei die Paradoxie | ||||||
| 08 | eingeräumt, hoffe ich, es solle, näher betrachtet, doch wenigstens der | ||||||
| 09 | Heterodoxie nicht überwiesen werden können; vielmehr solle es dem einsichtsvollen | ||||||
| 10 | und mit Bescheidenheit tadelnden, gründlichen Recensenten (der | ||||||
| 11 | jenes genommenen Anstoßes ungeachtet "diese metaphysischen Anfangsgründe | ||||||
| 12 | der Rechtslehre im Ganzen als Gewinn für die Wissenschaft ansieht") | ||||||
| 13 | nicht gereuen, sie wenigstens als einen der zweiten Prüfung nicht | ||||||
| 14 | unwürdigen Versuch gegen Anderer trotzige und seichte Absprechungen in | ||||||
| 15 | Schutz genommen zu haben. | ||||||
| 16 | Daß dem, welcher sich im Besitz der zu oberst gebietenden und gesetzgebenden | ||||||
| 17 | Gewalt über ein Volk befindet, müsse gehorcht werden und zwar | ||||||
| 18 | so juridisch=unbedingt, daß auch nur nach dem Titel dieser seiner Erwerbung | ||||||
| 19 | öffentlich zu forschen, also ihn zu bezweifeln, um sich bei etwaniger | ||||||
| 20 | Ermangelung desselben ihm zu widersetzen, schon strafbar, daß es ein kategorischer | ||||||
| 21 | Imperativ sei: Gehorchet der Obrigkeit (in allem, was nicht | ||||||
| 22 | dem inneren Moralischen widerstreitet), die Gewalt über euch hat, ist | ||||||
| 23 | der anstößige Satz, der in Abrede gezogen wird. - Nicht allein aber dieses | ||||||
| 24 | Princip, welches ein Factum (die Bemächtigung) als Bedingung dem | ||||||
| 25 | Rechte zum Grunde legt, sondern daß selbst die bloße Idee der Oberherrschaft | ||||||
| 26 | über ein Volk mich, der ich zu ihm gehöre, nöthige, ohne vorhergehende | ||||||
| 27 | Forschung dem angemaßten Rechte zu gehorchen (Rechtslehre | ||||||
| 28 | § 49), das scheint die Vernunft des Rec. zu empören. | ||||||
| 29 | Ein jedes Factum (Thatsache) ist Gegenstand in der Erscheinung | ||||||
| 30 | (der Sinne); dagegen das, was nur durch reine Vernunft vorgestellt | ||||||
| 31 | werden kann, was zu den Ideen gezählt werden muß, denen adäquat | ||||||
| 32 | kein Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann, dergleichen | ||||||
| 33 | eine vollkommene rechtliche Verfassung unter Menschen ist, das ist | ||||||
| 34 | das Ding an sich selbst. | ||||||
| 35 | Wenn dann nun ein Volk, durch Gesetze unter einer Obrigkeit vereinigt, | ||||||
| 36 | da ist, so ist der Idee der Einheit desselben überhaupt unter | ||||||
| 37 | einem machthabenden obersten Willen gemäß als Gegenstand der Erfahrung | ||||||
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