Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 207 |
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| 01 | - Um nun über diese scheinbare Anmaßung absprechen zu können, kommt | ||||||
| 02 | es auf die Frage an: ob es wohl mehr als eine Philosophie geben | ||||||
| 03 | könne. Verschiedene Arten zu philosophiren und zu den ersten Vernunftprincipien | ||||||
| 04 | zurückzugehen, um darauf mit mehr oder weniger Glück ein | ||||||
| 05 | System zu gründen, hat es nicht allein gegeben, sondern es mußte viele | ||||||
| 06 | Versuche dieser Art, deren jeder auch um die gegenwärtige sein Verdienst | ||||||
| 07 | hat, geben; aber da es doch, objectiv betrachtet, nur eine menschliche Vernunft | ||||||
| 08 | geben kann: so kann es auch nicht viel Philosophieen geben, d. i. es | ||||||
| 09 | ist nur ein wahres System derselben aus Principien möglich, so mannigfaltig | ||||||
| 10 | und oft widerstreitend man auch über einen und denselben Satz philosophirt | ||||||
| 11 | haben mag. So sagt der Moralist mit Recht: es giebt nur | ||||||
| 12 | Eine Tugend und Lehre derselben, d. i. ein einziges System, das alle Tugendpflichten | ||||||
| 13 | durch ein Princip verbindet; der Chymist: es giebt nur | ||||||
| 14 | eine Chemie (die nach Lavoisier); der Arzneilehrer: es giebt nur Ein | ||||||
| 15 | Princip zum System der Krankheitseintheilung (nach Brown), ohne doch | ||||||
| 16 | darum, weil das neue System alle andere ausschließt, das Verdienst der | ||||||
| 17 | älteren (Moralisten, Chemiker und Arzneilehrer) zu schmälern: weil ohne | ||||||
| 18 | dieser ihre Entdeckungen, oder auch mißlungene Versuche wir zu jener | ||||||
| 19 | Einheit des wahren Princips der ganzen Philosophie in einem System | ||||||
| 20 | nicht gelangt wären. - Wenn also jemand ein System der Philosophie | ||||||
| 21 | als sein eigenes Fabrikat ankündigt, so ist es eben so viel, als ob er sagte: | ||||||
| 22 | vor dieser Philosophie sei gar keine andere noch gewesen. Denn wollte | ||||||
| 23 | er einräumen, es wäre eine andere (und wahre) gewesen, so würde es | ||||||
| 24 | über dieselbe Gegenstände zweierlei wahre Philosophieen gegeben haben, | ||||||
| 25 | welches sich widerspricht. - Wenn also die kritische Philosophie sich als | ||||||
| 26 | eine solche ankündigt, vor der es überall noch gar keine Philosophie gegeben | ||||||
| 27 | habe, so thut sie nichts anders, als was alle gethan haben, thun | ||||||
| 28 | werden, ja thun müssen, die eine Philosophie nach ihrem eigenen Plane | ||||||
| 29 | entwerfen. | ||||||
| 30 | Von minderer Bedeutung, jedoch nicht ganz ohne alle Wichtigkeit | ||||||
| 31 | wäre der Vorwurf: daß ein diese Philosophie wesentlich unterscheidendes | ||||||
| 32 | Stück doch nicht ihr eigenes Gewächs, sondern etwa einer anderen Philosophie | ||||||
| 33 | (oder Mathematik) abgeborgt sei: dergleichen ist der Fund, den ein | ||||||
| 34 | tübingscher Recensent gemacht haben will, und der die Definition der Philosophie | ||||||
| 35 | überhaupt angeht, welche der Verfasser der Kritik d. r. V. für sein | ||||||
| 36 | eigenes, nicht unerhebliches Product ausgiebt, und die doch schon vor | ||||||
| 37 | vielen Jahren von einem Anderen fast mit denselben Ausdrücken gegeben | ||||||
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