Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 191 |
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| 01 | ob, wenn und was oder wie viel die Gnade in uns wirken werde, uns | ||||||
| 02 | gänzlich verborgen bleibt, und die Vernunft hierüber, so wie beim Übernatürlichen | ||||||
| 03 | überhaupt (dazu die Moralität als Heiligkeit gehört) von | ||||||
| 04 | aller Kenntniß der Gesetze, wornach es geschehen mag, verlassen ist. | ||||||
| 05 | Der Begriff eines übernatürlichen Beitritts zu unserem moralischen, | ||||||
| 06 | obzwar mangelhaften, Vermögen und selbst zu unserer nicht völlig gereinigten, | ||||||
| 07 | wenigstens schwachen Gesinnung, aller unserer Pflicht ein Genüge | ||||||
| 08 | zu thun, ist transscendent und eine bloße Idee, von deren Realität uns | ||||||
| 09 | keine Erfahrung versichern kann. - Aber selbst als Idee in bloß praktischer | ||||||
| 10 | Absicht sie anzunehmen, ist sie sehr gewagt und mit der Vernunft | ||||||
| 11 | schwerlich vereinbar: weil, was uns als sittliches gutes Verhalten zugerechnet | ||||||
| 12 | werden soll, nicht durch fremden Einfluß, sondern nur durch den | ||||||
| 13 | bestmöglichen Gebrauch unserer eigenen Kräfte geschehen müßte. Allein | ||||||
| 14 | die Unmöglichkeit davon (daß beides neben einander statt finde) läßt sich | ||||||
| 15 | doch eben auch nicht beweisen, weil die Freiheit selbst, obgleich sie nichts | ||||||
| 16 | Übernatürliches in ihrem Begriffe enthält, gleichwohl ihrer Möglichkeit | ||||||
| 17 | nach uns eben so unbegreiflich bleibt, als das Übernatürliche, welches man | ||||||
| 18 | zum Ersatz der selbstthätigen, aber mangelhaften Bestimmung derselben | ||||||
| 19 | annehmen möchte. | ||||||
| 20 | Da wir aber von der Freiheit doch wenigstens die Gesetze, nach | ||||||
| 21 | welchen sie bestimmt werden soll, (die moralischen) kennen, von einem | ||||||
| 22 | übernatürlichen Beistande aber, ob eine gewisse in uns wahrgenommene | ||||||
| 23 | moralische Stärke wirklich daher rühre, oder auch, in welchen Fällen und | ||||||
| 24 | unter welchen Bedingungen sie zu erwarten sei, nicht das Mindeste erkennen | ||||||
| 25 | können, so werden wir außer der allgemeinen Voraussetzung, daß, | ||||||
| 26 | was die Natur in uns nicht vermag, die Gnade bewirken werde, wenn | ||||||
| 27 | wir jene (d. i. unsere eigenen Kräfte) nur nach Möglichkeit benutzt haben, | ||||||
| 28 | von dieser Idee weiter gar keinen Gebrauch machen können: weder wie | ||||||
| 29 | wir (noch außer der stetigen Bestrebung zum guten Lebenswandel) ihre | ||||||
| 30 | Mitwirkung auf uns ziehen, noch wie wir bestimmen könnten, in welchen | ||||||
| 31 | Fällen wir uns ihrer zu gewärtigen haben. - Diese Idee ist gänzlich | ||||||
| 32 | überschwenglich, und es ist überdem heilsam, sich von ihr als einem Heiligthum | ||||||
| 33 | in ehrerbietiger Entfernung zu halten, damit wir nicht in dem | ||||||
| 34 | Wahne selbst Wunder zu thun, oder Wunder in uns wahrzunehmen uns | ||||||
| 35 | für allen Vernunftgebrauch untauglich machen oder auch zur Trägheit | ||||||
| 36 | einladen lassen, das, was wir in uns selbst suchen sollten, von oben herab | ||||||
| 37 | in passiver Muße zu erwarten. | ||||||
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