Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 186 |
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Text (Kant):
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| 01 | unternehmen will, recht sei, ist unbedingte Pflicht. Ob eine Handlung | ||||||
| 02 | überhaupt recht oder unrecht sei, darüber urtheilt der Verstand, nicht das | ||||||
| 03 | Gewissen. Es ist auch nicht schlechthin nothwendig, von allen möglichen | ||||||
| 04 | Handlungen zu wissen, ob sie recht oder unrecht sind. Aber von der, die | ||||||
| 05 | ich unternehmen will, muß ich nicht allein urtheilen und meinen, sondern | ||||||
| 06 | auch gewiß sein, daß sie nicht unrecht sei, und diese Forderung ist ein | ||||||
| 07 | Postulat des Gewissens, welchem der Probabilismus, d. i. der Grundsatz | ||||||
| 08 | entgegengesetzt ist: daß die bloße Meinung, eine Handlung könne wohl | ||||||
| 09 | recht sein, schon hinreichend sei, sie zu unternehmen. - Man könnte das | ||||||
| 10 | Gewissen auch so definiren: es ist die sich selbst richtende moralische | ||||||
| 11 | Urtheilskraft; nur würde diese Definition noch einer vorhergehenden | ||||||
| 12 | Erklärung der darin enthaltenen Begriffe gar sehr bedürfen. Das Gewissen | ||||||
| 13 | richtet nicht die Handlungen als Casus, die unter dem Gesetz stehen; | ||||||
| 14 | denn das thut die Vernunft, so fern sie subjectiv=praktisch ist (daher die | ||||||
| 15 | casus conscientiae und die Casuistik, als eine Art von Dialektik des Gewissens): | ||||||
| 16 | sondern hier richtet die Vernunft sich selbst, ob sie auch wirklich | ||||||
| 17 | jene Beurtheilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie Recht | ||||||
| 18 | oder Unrecht sind) übernommen habe, und stellt den Menschen wider | ||||||
| 19 | oder für sich selbst zum Zeugen auf, daß dieses geschehen oder nicht geschehen | ||||||
| 20 | sei. | ||||||
| 21 | Man nehme z. B. einen Ketzerrichter an, der an der Alleinigkeit seines | ||||||
| 22 | statutarischen Glaubens bis allenfalls zum Märtyrerthume fest hängt, | ||||||
| 23 | und der einen des Unglaubens verklagten sogenannten Ketzer (sonst guten | ||||||
| 24 | Bürger) zu richten hat, und nun frage ich: ob, wenn er ihn zum Tode verurtheilt, | ||||||
| 25 | man sagen könne, er habe seinem (obzwar irrenden) Gewissen | ||||||
| 26 | gemäß gerichtet, oder ob man ihm vielmehr schlechthin Gewissenlosigkeit | ||||||
| 27 | Schuld geben könne, er mag geirrt oder mit Bewußtsein unrecht gethan | ||||||
| 28 | haben; weil man es ihm auf den Kopf zusagen kann, daß er in | ||||||
| 29 | einem solchen Falle nie ganz gewiß sein konnte, er thue hierunter nicht | ||||||
| 30 | vielleicht unrecht. Er war zwar vermuthlich des festen Glaubens, daß | ||||||
| 31 | ein übernatürlich=geoffenbarter göttlicher Wille (vielleicht nach dem Spruch: | ||||||
| 32 | compellite intrare ) es ihm erlaubt, wo nicht gar zur Pflicht macht, den | ||||||
| 33 | vermeinten Unglauben zusammt den Ungläubigen auszurotten. Aber war | ||||||
| 34 | er denn wirklich von einer solchen geoffenbarten Lehre und auch diesem | ||||||
| 35 | Sinne derselben so sehr überzeugt, als erfordert wird, um es darauf zu | ||||||
| 36 | wagen, einen Menschen umzubringen? Daß einem Menschen seines Religionsglaubens | ||||||
| 37 | wegen das Leben zu nehmen unrecht sei, ist gewiß: wenn | ||||||
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