| Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 163 | |||||||
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| 01 | Menschen hätte gebracht werden sollen. Um deswillen darf es auch | ||||||
| 02 | niemand befremden, wenn er einen den damaligen Vorurtheilen sich bequemenden | ||||||
| 03 | Vortrag für die jetzige Zeit räthselhaft und einer sorgfältigen | ||||||
| 04 | Auslegung bedürftig findet: ob er zwar allerwärts eine Religionslehre | ||||||
| 05 | durchscheinen läßt und zugleich öfters darauf ausdrücklich hinweiset, die | ||||||
| 06 | jedem Menschen verständlich und ohne allen Aufwand von Gelehrsamkeit | ||||||
| 07 | überzeugend sein muß. | ||||||
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| 10 | Sofern eine Religion Glaubenssätze als nothwendig vorträgt, die | ||||||
| 11 | nicht durch die Vernunft als solche erkannt werden können, gleichwohl | ||||||
| 12 | aber doch allen Menschen auf alle künftige Zeiten unverfälscht (dem wesentlichen | ||||||
| 13 | Inhalt nach) mitgetheilt werden sollen, so ist sie (wenn man nicht | ||||||
| 14 | ein continuirliches Wunder der Offenbarung annehmen will) als ein der | ||||||
| 15 | Obhut der Gelehrten anvertrautes heiliges Gut anzusehen. Denn ob | ||||||
| 16 | sie gleich anfangs, mit Wundern und Thaten begleitet, auch in dem, | ||||||
| 17 | was durch Vernunft eben nicht bestätigt wird, allenthalben Eingang | ||||||
| 18 | finden konnte, so wird doch selbst die Nachricht von diesen Wundern zusammt | ||||||
| 19 | den Lehren, die der Bestätigung durch dieselbe bedurften, in der | ||||||
| 20 | Folge der Zeit eine schriftliche urkundliche und unveränderliche Belehrung | ||||||
| 21 | der Nachkommenschaft nöthig haben. | ||||||
| 22 | Die Annehmung der Grundsätze einer Religion heißt vorzüglicher | ||||||
| 23 | Weise der Glaube ( fides sacra ). Wir werden also den christlichen Glauben | ||||||
| 24 | einerseits als einen reinen Vernunftglauben, andrerseits als einen | ||||||
| 25 | Offenbarungsglauben ( fides statutaria ) zu betrachten haben. Der | ||||||
| 26 | erstere kann nun als ein von jedem frei angenommener ( fides elicita ), | ||||||
| 27 | der zweite als ein gebotener Glaube ( fides imperata ) betrachtet werden. | ||||||
| 28 | Von dem Bösen, was im menschlichen Herzen liegt, und von dem Niemand | ||||||
| 29 | frei ist, von der Unmöglichkeit, durch seinen Lebenswandel sich jemals vor | ||||||
| 30 | Gott für gerechtfertigt zu halten, und gleichwohl der Nothwendigkeit einer | ||||||
| 31 | solchen vor ihm gültigen Gerechtigkeit, von der Untauglichkeit des Ersatzmittels | ||||||
| 32 | für die ermangelnde Rechtschaffenheit durch kirchliche Observanzen | ||||||
| 33 | und fromme Frohndienste und dagegen der unerlaßlichen Verbindlichkeit, | ||||||
| 34 | ein neuer Mensch zu werden, kann sich ein jeder durch seine Vernunft | ||||||
| 35 | überzeugen, und es gehört zur Religion, sich davon zu überzeugen. | ||||||
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