Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 116 |
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| 01 | oder Hoffnung abgenöthigte Handlungen sind, die auch ein böser Mensch | ||||||
| 02 | ausüben kann, Gott wohlgefällig zu werden, anstatt daß der letztere dazu | ||||||
| 03 | eine moralisch gute Gesinnung als nothwendig voraussetzt. | ||||||
| 04 | Der seligmachende Glaube enthält zwei Bedingungen seiner Hoffnung | ||||||
| 05 | der Seligkeit: die eine in Ansehung dessen, was er selbst nicht thun | ||||||
| 06 | kann, nämlich seine geschehene Handlungen rechtlich (vor einem göttlichen | ||||||
| 07 | Richter) ungeschehen zu machen, die andere in Ansehung dessen, was er | ||||||
| 08 | selbst thun kann und soll, nämlich in einem neuen, seiner Pflicht gemäßen | ||||||
| 09 | Leben zu wandeln. Der erstere Glaube ist der an eine Genugthuung (Bezahlung | ||||||
| 10 | für seine Schuld, Erlösung, Versöhnung mit Gott), der zweite ist | ||||||
| 11 | der Glaube in einem ferner zu führenden guten Lebenswandel Gott wohlgefällig | ||||||
| 12 | werden zu können. - Beide Bedingungen machen nur einen Glauben | ||||||
| 13 | aus und gehören nothwendig zusammen. Man kann aber die Nothwendigkeit | ||||||
| 14 | einer Verbindung nicht anders einsehen, als wenn man annimmt, | ||||||
| 15 | es lasse sich eine von der andern ableiten, also daß entweder der | ||||||
| 16 | Glaube an die Lossprechung von der auf uns liegenden Schuld den guten | ||||||
| 17 | Lebenswandel, oder daß die wahrhafte und thätige Gesinnung eines jederzeit | ||||||
| 18 | zu führenden guten Lebenswandels den Glauben an jene Lossprechung | ||||||
| 19 | nach dem Gesetze moralisch wirkender Ursachen hervorbringe. | ||||||
| 20 | Hier zeigt sich nun eine merkwürdige Antinomie der menschlichen | ||||||
| 21 | Vernunft mit ihr selbst, deren Auflösung, oder, wenn diese nicht möglich | ||||||
| 22 | sein sollte, wenigstens Beilegung es allein ausmachen kann, ob ein historischer | ||||||
| 23 | (Kirchen=) Glaube jederzeit als wesentliches Stück des seligmachenden | ||||||
| 24 | über den reinen Religionsglauben hinzukommen müsse, oder ob er als | ||||||
| 25 | bloßes Leitmittel endlich, wie fern diese Zukunft auch sei, in den reinen | ||||||
| 26 | Religionsglauben übergehen könne. | ||||||
| 27 | 1. Vorausgesetzt, daß für die Sünden des Menschen eine Genugthuung | ||||||
| 28 | geschehen sei, so ist zwar wohl begreiflich, wie ein jeder Sünder | ||||||
| 29 | sie gern auf sich beziehen möchte und, wenn es bloß aufs Glauben ankommt | ||||||
| 30 | (welches soviel als Erklärung bedeutet, er wolle, sie sollte auch für | ||||||
| 31 | ihn geschehen sein), deshalb nicht einen Augenblick Bedenken tragen würde. | ||||||
| 32 | Allein es ist gar nicht einzusehen, wie ein vernünftiger Mensch, der sich | ||||||
| 33 | strafschuldig weiß, im ernst Glauben könne, er habe nur nöthig, die Botschaft | ||||||
| 34 | von einer für ihn geleisteten Genugthuung zu glauben und sie (wie | ||||||
| 35 | die Juristen sagen) utiliter anzunehmen, um seine Schuld als getilgt anzusehen, | ||||||
| 36 | und zwar dermaßen (mit der Wurzel sogar), daß auch fürs künftige | ||||||
| 37 | ein guter Lebenswandel, um den er sich bisher nicht die mindeste | ||||||
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