Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 049

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 thun kann, bloß Pflicht; seine Pflicht aber thun, ist nichts mehr, als das      
  02 thun, was in der gewöhnlichen sittlichen Ordnung ist, mithin nicht bewundert      
  03 zu werden verdient. Vielmehr ist diese Bewunderung eine Abstimmung      
  04 unsers Gefühls für Pflicht, gleich als ob es etwas Außerordentliches      
  05 und Verdienstliches wäre, ihr Gehorsam zu leisten.      
           
  06 Aber eines ist in unsrer Seele, welches, wenn wir es gehörig ins      
  07 Auge fassen, wir nicht aufhören können, mit der höchsten Verwunderung      
  08 zu betrachten, und wo die Bewunderung rechtmäßig, zugleich auch seelenerhebend      
  09 ist; und das ist: die ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt.      
  10 - Was ist das (kann man sich selbst fragen) in uns, wodurch wir      
  11 von der Natur durch so viel Bedürfnisse beständig abhängige Wesen doch      
  12 zugleich über diese in der Idee einer ursprünglichen Anlage (in uns) so      
  13 weit erhoben werden, daß wir sie insgesammt für nichts und uns selbst      
  14 des Daseins für unwürdig halten, wenn wir ihrem Genusse, der uns doch      
  15 das Leben allein wünschenswerth machen kann, einem Gesetze zuwider      
  16 nachhängen sollten, durch welches unsere Vernunft mächtig gebietet, ohne      
  17 doch dabei weder etwas zu verheißen noch zu drohen? Das Gewicht dieser      
  18 Frage muß ein jeder Mensch von der gemeinsten Fähigkeit, der vorher von      
  19 der Heiligkeit, die in der Idee der Pflicht liegt, belehrt worden, der sich      
  20 aber nicht bis zur Nachforschung des Begriffes der Freiheit, welcher allererst      
  21 aus diesem Gesetze hervorgeht*), versteigt, innigst fühlen; und selbst      
           
    *) Daß der Begriff der Freiheit der Willkür nicht vor dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes in uns vorhergehe, sondern nur aus der Bestimmbarkeit unserer Willkür durch dieses, als ein unbedingtes Gebot, geschlossen werde, davon kann man sich bald überzeugen, wenn man sich fragt: ob man auch gewiß und unmittelbar sich eines Vermögens bewußt sei, jede noch so große Triebfeder zur Übertretung ( Phalaris licet imperet, ut sis falsus, et admoto dictet periuria tauro ) durch festen Vorsatz überwältigen zu können. Jedermann wird gestehen müssen: er wisse nicht, ob, wenn ein solcher Fall einträte, er nicht in seinem Vorsatz wanken würde. Gleichwohl aber gebietet ihm die Pflicht unbedingt: er solle ihm treu bleiben; und hieraus schließt er mit Recht: er müsse es auch können, und seine Willkür sei also frei. Die, welche diese unerforschliche Eigenschaft als ganz begreiflich vorspiegeln, machen durch das Wort Determinismus (den Satz der Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe) ein Blendwerk, gleich als ob die Schwierigkeit darin bestände, diesen mit der Freiheit zu vereinigen, woran doch niemand denkt; sondern: wie der Prädeterminism, nach welchem willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist), mit der Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr [Seitenumbruch] Gegentheil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjects sein muß, zusammen bestehen könne: das ists, was man einsehen will und nie einsehen wird.      
           
     

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