Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 038 |
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| 01 | Diese angeborne Schuld ( reatus ), welche so genannt wird, weil sie | ||||||
| 02 | sich so früh, als sich nur immer der Gebrauch der Freiheit im Menschen | ||||||
| 03 | äußert, wahrnehmen läßt und nichts destoweniger doch aus der Freiheit | ||||||
| 04 | entsprungen sein muß und daher zugerechnet werden kann, kann in ihren | ||||||
| 05 | zwei ersteren Stufen (der Gebrechlichkeit und der Unlauterkeit) als unvorsätzlich | ||||||
| 06 | ( culpa ), in der dritten aber als vorsätzliche Schuld ( dolus ) beurtheilt | ||||||
| 07 | werden und hat zu ihrem Charakter eine gewisse Tücke des menschlichen | ||||||
| 08 | Herzens ( dolus malus ), sich wegen seiner eigenen guten oder bösen | ||||||
| 09 | Gesinnungen selbst zu betrügen und, wenn nur die Handlungen das Böse | ||||||
| 10 | nicht zur Folge haben, was sie nach ihren Maximen wohl haben könnten, | ||||||
| 11 | sich seiner Gesinnung wegen nicht zu beunruhigen, sondern vielmehr vor | ||||||
| 12 | dem Gesetze gerechtfertigt zu halten. Daher rührt die Gewissensruhe so | ||||||
| 13 | vieler (ihrer Meinung nach gewissenhaften) Menschen, wenn sie mitten | ||||||
| 14 | unter Handlungen, bei denen das Gesetz nicht zu Rathe gezogen ward, | ||||||
| 15 | wenigstens nicht das Meiste galt, nur den bösen Folgen glücklich entwischten, | ||||||
| 16 | und wohl gar die Einbildung von Verdienst, keiner solcher Vergehungen | ||||||
| 17 | sich schuldig zu fühlen, mit denen sie Andere behaftet sehen: ohne doch | ||||||
| 18 | nachzuforschen, ob es nicht blos etwa Verdienst des Glücks sei, und ob | ||||||
| 19 | nach der Denkungsart, die sie in ihrem Innern wohl aufdecken könnten, | ||||||
| 20 | wenn sie nur wollten, nicht gleiche Laster von ihnen verübt worden wären, | ||||||
| 21 | wenn nicht Unvermögen, Temperament, Erziehung, Umstände der Zeit | ||||||
| 22 | und des Orts, die in Versuchung führen, (lauter Dinge, die uns nicht zugerechnet | ||||||
| 23 | werden können) davon entfernt gehalten hätten. Diese Unredlichkeit, | ||||||
| 24 | sich selbst blauen Dunst vorzumachen, welche die Gründung ächter | ||||||
| 25 | moralischer Gesinnung in uns abhält, erweitert sich denn auch äußerlich | ||||||
| 26 | zur Falschheit und Täuschung anderer, welche, wenn sie nicht Bosheit genannt | ||||||
| 27 | werden soll, doch wenigstens Nichtswürdigkeit zu heißen verdient, | ||||||
| 28 | und liegt in dem radicalen Bösen der menschlichen Natur, welches (indem | ||||||
| 29 | es die moralische Urtheilskraft in Ansehung dessen, wofür man einen Menschen | ||||||
| 30 | halten solle, verstimmt und die Zurechnung innerlich und äußerlich | ||||||
| 31 | ganz Ungewiß macht) den faulen Fleck unserer Gattung ausmacht, der, | ||||||
| 32 | so lange wir ihn nicht herausbringen, den Keim des Guten hindert, sich, | ||||||
| 33 | wie er sonst wohl thun würde, zu entwickeln. | ||||||
| 34 | Ein Mitglied des englischen Parlaments stieß in der Hitze die Behauptung | ||||||
| 35 | aus: "Ein jeder Mensch hat seinen Preis, für den er sich weggiebt." | ||||||
| 36 | Wenn dieses wahr ist (welches dann ein jeder bei sich ausmachen | ||||||
| 37 | mag), wenn es überall keine Tugend giebt, für die nicht ein Grad der | ||||||
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