Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 411 |
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Text (Kant):
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| 01 | Dagegen mag ich einen Begriff von einem Dinge annehmen, | ||||||
| 02 | welchen ich will, so finde ich, daß sein Dasein niemals von mir als | ||||||
| 03 | schlechterdings nothwendig vorgestellt werden könne, und daß mich nichts | ||||||
| 04 | hindere, es mag existiren, was da wolle, das Nichtsein desselben zu denken; | ||||||
| 05 | mithin ich zwar zu dem Existirenden überhaupt etwas Nothwendiges annehmen | ||||||
| 06 | müsse, kein einziges Ding aber selbst als an sich nothwendig | ||||||
| 07 | denken könne. Das heißt: ich kann das Zurückgehen zu den Bedingungen | ||||||
| 08 | des Existirens niemals vollenden, ohne ein nothwendiges Wesen anzunehmen; | ||||||
| 09 | ich kann aber von demselben niemals anfangen. | ||||||
| 10 | Wenn ich zu existirenden Dingen überhaupt etwas Nothwendiges | ||||||
| 11 | denken muß, kein Ding aber an sich selbst als nothwendig zu denken befugt | ||||||
| 12 | bin, so folgt daraus unvermeidlich, daß Nothwendigkeit und Zufälligkeit | ||||||
| 13 | nicht die Dinge selbst angehen und treffen müsse, weil sonst ein Widerspruch | ||||||
| 14 | vorgehen würde; mithin keiner dieser beiden Grundsätze objectiv | ||||||
| 15 | sei, sondern sie allenfalls nur subjective Principien der Vernunft sein | ||||||
| 16 | können, nämlich einerseits zu allem, was als existirend gegeben ist, etwas | ||||||
| 17 | zu suchen, das nothwendig ist, d. i. niemals anderswo als bei einer a priori | ||||||
| 18 | vollendeten Erklärung aufzuhören, andererseits aber auch diese Vollendung | ||||||
| 19 | niemals zu hoffen, d. i. nichts Empirisches als unbedingt anzunehmen, | ||||||
| 20 | und sich dadurch fernerer Ableitung zu überheben. In solcher Bedeutung | ||||||
| 21 | können beide Grundsätze als bloß heuristisch und regulativ, die nichts | ||||||
| 22 | als das formale Interesse der Vernunft besorgen, ganz wohl bei einander | ||||||
| 23 | bestehen. Denn der eine sagt: ihr sollt so über die Natur philosophiren, | ||||||
| 24 | als ob es zu allem, was zur Existenz gehört, einen nothwendigen ersten | ||||||
| 25 | Grund gebe, lediglich um systematische Einheit in eure Erkenntniß zu | ||||||
| 26 | bringen, indem ihr einer solchen Idee, nämlich einem eingebildeten obersten | ||||||
| 27 | Grunde, nachgeht; der andere aber warnt euch, keine einzige Bestimmung, | ||||||
| 28 | die die Existenz der Dinge betrifft, für einen solchen obersten Grund, | ||||||
| 29 | d. i. als absolut nothwendig, anzunehmen, sondern euch noch immer den | ||||||
| 30 | Weg zur ferneren Ableitung offen zu erhalten und sie daher jederzeit noch | ||||||
| 31 | als bedingt zu behandeln. Wenn aber von uns alles, was an den Dingen | ||||||
| 32 | wahrgenommen wird, als bedingt nothwendig betrachtet werden muß: so | ||||||
| 33 | kann auch kein Ding (das empirisch gegeben sein mag) als absolut nothwendig | ||||||
| 34 | angesehen werden. | ||||||
| 35 | Es folgt aber hieraus, daß ihr das Absolutnothwendige außerhalb | ||||||
| 36 | der Welt annehmen müßt: weil es nur zu einem Princip der größtmöglichen | ||||||
| 37 | Einheit der Erscheinungen als deren oberster Grund dienen soll | ||||||
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