Kant: AA VIII, Muthmaßlicher Anfang der ... , Seite 119

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Vieh schont seine Pflanzungen nicht. Da es nun jenem nach dem Schaden,      
  02 den er angerichtet hat, ein leichtes ist, sich mit seiner Heerde weit weg zu      
  03 machen und sich aller Schadloshaltung zu entziehen, weil er nichts hinterläßt,      
  04 was er nicht eben so gut allenthalben wieder fände: so war es wohl      
  05 der Ackersmann, der gegen solche Beeinträchtigungen, die der andere nicht      
  06 für unerlaubt hielt, Gewalt brauchen und (da die Veranlassung dazu niemals      
  07 ganz aufhören konnte), wenn er nicht der Früchte seines langen      
  08 Fleißes verlustig gehen wollte, sich endlich so weit, als es ihm möglich      
  09 war, von denen, die das Hirtenleben trieben, entfernen mußte (V. 16).      
  10 Diese Scheidung macht die dritte Epoche.      
           
  11 Ein Boden, von dessen Bearbeitung und Bepflanzung (vornehmlich      
  12 mit Bäumen) der Unterhalt abhängt, erfordert bleibende Behausungen;      
  13 und die Vertheidigung desselben gegen alle Verletzungen bedarf einer      
  14 Menge einander Beistand leistender Menschen. Mithin konnten die Menschen      
  15 bei dieser Lebensart sich nicht mehr familienweise zerstreuen, sondern      
  16 mußten zusammen halten und Dorfschaften (uneigentlich Städte genannt)      
  17 errichten, um ihr Eigenthum gegen wilde Jäger oder Horden herumschweifender      
  18 Hirten zu schützen. Die ersten Bedürfnisse des Lebens, deren      
  19 Anschaffung eine verschiedene Lebensart erfordert (V. 20), konnten      
  20 nun gegen einander vertauscht werden. Daraus mußte Cultur      
  21 entspringen und der Anfang der Kunst, des Zeitvertreibes sowohl als      
  22 des Fleißes (V. 21. 22); was aber das Vornehmste ist, auch einige Anstalt      
  23 zur bürgerlichen Verfassung und öffentlicher Gerechtigkeit, zuerst freilich      
  24 nur in Ansehung der größten Gewaltthätigkeiten, deren Rächung nun nicht      
  25 mehr wie im wilden Zustande einzelnen, sondern einer gesetzmäßigen      
  26 Macht, die das Ganze zusammenhielt, d. i. einer Art von Regierung überlassen      
  27 war, über welche selbst keine Ausübung der Gewalt statt fand      
  28 (V. 23, 24). - Von dieser ersten und rohen Anlage konnte sich nun nach      
  29 und nach alle menschliche Kunst, unter welcher die der Geselligkeit      
  30 und bürgerlichen Sicherheit die ersprießlichste ist, allmählich entwickeln,      
  31 das menschliche Geschlecht sich vermehren und aus einem Mittelpunkte      
  32 wie Bienenstöcke durch Aussendung schon gebildeter Colonisten      
  33 überall verbreiten. Mit dieser Epoche fing auch die Ungleichheit unter      
  34 Menschen, diese reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten, an      
  35 und nahm fernerhin zu.      
           
  36 So lange nun noch die nomadischen Hirtenvölker, welche allein Gott      
  37 für ihren Herrn erkennen, die Städtebewohner und Ackerleute, welche      
           
     

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