Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 138

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 oder einen reinen Vernunftglauben gehalten werden. Ohne      
  02 durch die größte Noth zur Annahme des ersten gedrungen zu sein, werden      
  03 wir es uns zur Maxime machen, es mit dem letztern zu halten. - Gefühle      
  04 sind nicht Erkenntnisse und bezeichnen also auch kein Geheimniß, und da      
  05 das letztere auf Vernunft Beziehung hat, aber doch nicht allgemein mitgetheilt      
  06 werden kann, so wird (wenn je ein solches ist) jeder es nur in      
  07 seiner eignen Vernunft aufzusuchen haben.      
           
  08 Es ist unmöglich, a priori und objectiv auszumachen, ob es dergleichen      
  09 Geheimnisse gäbe, oder nicht. Wir werden also in dem Innern,      
  10 dem Subjectiven unserer moralischen Anlage, unmittelbar nachsuchen      
  11 müssen, um zu sehen, ob sich dergleichen in uns finde. Doch werden wir      
  12 nicht die uns unerforschlichen Gründe zu dem Moralischen, was sich zwar      
  13 öffentlich mittheilen läßt, wozu uns aber die Ursache nicht gegeben ist,      
  14 sondern das allein, was uns fürs Erkenntniß gegeben, aber doch einer      
  15 öffentlichen Mittheilung unfähig ist, zu den heiligen Geheimnissen zählen      
  16 dürfen. So ist die Freiheit, eine Eigenschaft, die dem Menschen aus der      
  17 Bestimmbarkeit seiner Willkür durch das unbedingt moralische Gesetz kund      
  18 wird, kein Geheimniß, weil ihr Erkenntniß jedermann mitgetheilt      
  19 werden kann; der uns unerforschliche Grund dieser Eigenschaft aber ist      
  20 ein Geheimniß, weil er uns zur Erkenntniß nicht gegeben ist. Aber      
  21 eben diese Freiheit ist auch allein dasjenige, was, wenn sie auf das letzte      
  22 Object der praktischen Vernunft, die Realisirung der Idee des moralischen      
  23 Endzwecks, angewandt wird, uns unvermeidlich auf heilige Geheimnisse      
  24 führt*).      
           
           
    *) So ist die Ursache der allgemeinen Schwere aller Materie der Welt uns unbekannt, dermaßen daß man noch dazu einsehen kann, sie könne von uns nie erkannt werden: weil schon der Begriff von ihr eine erste und unbedingt ihr selbst beiwohnende Bewegungskraft voraussetzt. Aber sie ist doch kein Geheimniß, sondern kann jedem offenbar gemacht werden, weil ihr Gesetz hinreichend erkannt ist. Wenn Newton sie gleichsam wie die göttliche Allgegenwart in der Erscheinung ( omnipraesentia phaenomenon ) vorstellt, so ist das kein Versuch, sie zu erklären (denn das Dasein Gottes im Raum enthält einen Widerspruch), aber doch eine erhabene Analogie, in der es bloß auf die Vereinigung körperlicher Wesen zu einem Weltganzen angesehen ist, indem man ihr eine unkörperliche Ursache unterlegt; und so würde es auch dem Versuch ergehen, das selbstständige Princip der Vereinigung der vernünftigen Weltwesen in einem ethischen Staat einzusehen und die letztere daraus zu erklären. Nur die Pflicht, die uns dazu hinzieht, erkennen wir; die Möglichkeit der beabsichtigten Wirkung, wenn wir jener gleich gehorchen, liegt über [Seitenumbruch] die Grenzen aller unserer Einsicht hinaus. - Es giebt Geheimnisse, Verborgenheiten ( arcana ) der Natur, es kann Geheimnisse (Geheimhaltung, secreta ) der Politik geben, die nicht öffentlich bekannt werden sollen; aber beide können uns doch, so fern sie auf empirischen Ursachen beruhen, bekannt werden. In Ansehung dessen, was zu erkennen allgemeine Menschenpflicht ist, (nämlich des Moralischen) kann es kein Geheimniß geben, aber in Ansehung dessen, was nur Gott thun kann, wozu etwas selbst zu thun unser Vermögen, mithin auch unsere Pflicht übersteigt, da kann es nur eigentliches, nämlich heiliges Geheimniß ( mysterium ) der Religion geben, wovon uns etwa nur, daß es ein solches gebe, zu wissen und es zu verstehen, nicht eben es einzusehen, nützlich sein möchte.      
           
     

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