Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 135

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 möchten. Er bereitete sie vielmehr vor, auf die größten Trübsale und      
  02 Aufopferungen gefaßt zu sein; doch setzte er (weil eine gänzliche Verzichtthuung      
  03 auf das Physische der Glückseligkeit dem Menschen, so lange er      
  04 existirt, nicht zugemuthet werden kann) hinzu: "Seid fröhlich und getrost,      
  05 es wird euch im Himmel wohl vergolten werden". Der angeführte Zusatz      
  06 zur Geschichte der Kirche, der das künftige und letzte Schicksal derselben      
  07 betrifft, stellt diese nun endlich als triumphirend, d. i. nach allen überwundenen      
  08 Hindernissen als mit Glückseligkeit noch hier auf Erden bekrönt,      
  09 vor. - Die Scheidung der Guten von den Bösen, die während der Fortschritte      
  10 der Kirche zu ihrer Vollkommenheit diesem Zwecke nicht zuträglich      
  11 gewesen sein würde (indem die Vermischung beider untereinander gerade      
  12 dazu nöthig war, theils um den erstern zum Wetzstein der Tugend zu      
  13 dienen, theils um die andern durch ihr Beispiel vom Bösen abzuziehen),      
  14 wird nach vollendeter Errichtung des göttlichen Staats als die letzte Folge      
  15 derselben vorgestellt; wo noch der letzte Beweis seiner Festigkeit, als Macht      
  16 betrachtet, sein Sieg über alle äußere Feinde, die eben sowohl auch als      
  17 in einem Staate (dem Höllenstaat) betrachtet werden, hinzugefügt wird,      
  18 womit dann alles Erdenleben ein Ende hat, indem "der letzte Feind (der      
  19 guten Menschen), der Tod, aufgehoben wird", und an beiden Theilen,      
  20 dem einen zum Heil, dem andern zum Verderben, Unsterblichkeit anhebt,      
  21 die Form einer Kirche selbst aufgelöset wird, der Statthalter auf Erden      
  22 mit den zu ihm als Himmelsbürger erhobenen Menschen in eine Klasse      
  23 tritt, und so Gott alles in allem ist.*)      
           
  24 Diese Vorstellung einer Geschichtserzählung der Nachwelt, die selbst      
  25 keine Geschichte ist, ist ein schönes Ideal der durch Einführung der      
  26 wahren allgemeinen Religion bewirkten moralischen, im Glauben vorausgesehenen      
           
    *) Dieser Ausdruck kann (wenn man das Geheimnißvolle, über alle Gränzen möglicher Erfahrung Hinausreichende, bloß zur heiligen Geschichte der Menschheit Gehörige, uns also praktisch nichts Angehende bei Seite setzt) so verstanden werden, daß der Geschichtsglaube, der als Kirchenglaube ein heiliges Buch zum Leitbande der Menschen bedarf, aber eben dadurch die Einheit und Allgemeinheit der Kirche verhindert, selbst aufhören und in einen reinen, für alle Welt gleich einleuchtenden Religionsglauben übergehen werde; wohin wir dann schon jetzt durch anhaltende Entwickelung der reinen Vernunftreligion aus jener gegenwärtig noch nicht entbehrlichen Hülle fleißig arbeiten sollen.      
           
    *!) Nicht daß er aufhöre (denn vielleicht mag er als Vehikel immer nützlich und nöthig sein), sondern aufhören könne; womit nur die innere Festigkeit des reinen moralischen Glaubens gemeint ist.      
           
     

[ Seite 134 ] [ Seite 136 ] [ Inhaltsverzeichnis ]