Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 125

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 die Geschichte der Satzungen verschiedner Völker, deren Glaube in keiner      
  02 Verbindung unter einander steht, gewährt sonst keine Einheit der Kirche.      
  03 Zu dieser Einheit aber kann nicht gerechnet werden: daß in einem und      
  04 demselben Volk ein gewisser neuer Glaube einmal entsprungen ist, der sich      
  05 von dem vorher herrschenden namhaft unterschied; wenn gleich dieser die      
  06 veranlassenden Ursachen zu des neuen Erzeugung bei sich führte. Denn      
  07 es muß Einheit des Princips sein, wenn man die Folge verschiedner Glaubensarten      
  08 nacheinander zu den Modificationen einer und derselben Kirche      
  09 rechnen soll, und die Geschichte der letztern ist es eigentlich, womit wir uns      
  10 jetzt beschäftigen.      
           
  11 Wir können also in dieser Absicht nur die Geschichte derjenigen Kirche,      
  12 die von ihrem ersten Anfange an den Keim und die Principien zur objectiven      
  13 Einheit des wahren und allgemeinen Religionsglaubens bei      
  14 sich führte, dem sie allmählig näher gebracht wird, abhandeln. - Da zeigt      
  15 sich nun zuerst: daß der jüdische Glaube mit diesem Kirchenglauben,      
  16 dessen Geschichte wir betrachten wollen, in ganz und gar keiner wesentlichen      
  17 Verbindung, d. i. in keiner Einheit nach Begriffen, steht, obzwar jener      
  18 unmittelbar vorhergegangen und zur Gründung dieser (der christlichen)      
  19 Kirche die physische Veranlassung gab.      
           
  20 Der jüdische Glaube ist seiner ursprünglichen Einrichtung nach      
  21 ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung      
  22 gegründet war; denn welche moralische Zusätze entweder damals schon      
  23 oder auch in der Folge ihm angehängt worden sind, die sind schlechterdings      
  24 nicht zum Judenthum als einem solchen gehörig. Das letztere ist      
  25 eigentlich gar keine Religion, sondern bloß Vereinigung einer Menge      
  26 Menschen, die, da sie zu einem besondern Stamm gehörten, sich zu einem      
  27 gemeinen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer      
  28 Kirche formten; vielmehr sollte es ein bloß weltlicher Staat sein, so daß      
  29 wenn dieser etwa durch widrige Zufälle zerrissen worden, ihm noch immer      
  30 der (wesentlich zu ihm gehörige) politische Glaube übrig bliebe, ihn (bei      
  31 Ankunft des Messias) wohl einmal wiederherzustellen. Daß diese Staatsverfassung      
  32 Theokratie zur Grundlage hat (sichtbarlich eine Aristokratie der      
  33 Priester oder Anführer, die sich unmittelbar von Gott ertheilter Instructionen      
  34 rühmten), mithin der Name von Gott, der doch hier bloß als weltlicher      
  35 Regent, der über und an das Gewissen gar keinen Anspruch thut,      
  36 verehrt wird, macht sie nicht zu einer Religionsverfassung. Der Beweis,      
  37 daß sie das letztere nicht hat sein sollen, ist klar. Erstlich sind alle Gebote      
           
     

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