Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 121

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 wissen, für bloß historisch gehalten werden sollte, er doch, wenn man ihm      
  02 und den damit verbundenen Gefühlen nachhängt, den ganzen Menschen      
  03 von Grunde aus zu bessern (einen neuen Menschen aus ihm zu machen)      
  04 im Stande sei: so müßte dieser Glaube selbst als unmittelbar vom Himmel      
  05 (mit und unter dem historischen Glauben) ertheilt und eingegeben angesehen      
  06 werden, wo denn alles selbst mit der moralischen Beschaffenheit      
  07 des Menschen zuletzt auf einen unbedingten Rathschluß Gottes hinausläuft:      
  08 "Er erbarmet sich, welches er will, und verstocket, welchen er      
  09 will,"*) welches, nach dem Buchstaben genommen, der salto mortale der      
  10 menschlichen Vernunft ist.      
           
  11 Es ist also eine nothwendige Folge der physischen und zugleich der      
  12 moralischen Anlage in uns, welche letztere die Grundlage und zugleich      
  13 Auslegerin aller Religion ist, daß diese endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen,      
  14 von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen,      
  15 und die vermittelst eines Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zur      
  16 Beförderung des Guten vereinigen, allmählig losgemacht werde, und so      
  17 reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche, "damit Gott sei alles in      
  18 allem." - Die Hüllen, unter welchen der Embryo sich zuerst zum Menschen      
  19 bildete, müssen abgelegt werden, wenn er nun an das Tageslicht      
  20 treten soll. Das Leitband der heiligen Überlieferung mit seinen Anhängseln,      
  21 den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste      
  22 that, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel, wenn er in      
  23 das Jünglingsalter eintritt. So lange er (die Menschengattung) "ein      
  24 Kind war, war er klug als ein Kind" und wußte mit Satzungen, die ihm      
           
    *) Das kann wohl so ausgelegt werden: kein Mensch kann mit Gewißheit sagen, woher dieser ein guter, jener ein böser Mensch (beide comparative) wird, da oftmals die Anlage zu diesem Unterschiede schon in der Geburt anzutreffen zu sein scheint, bisweilen auch Zufälligkeiten des Lebens, für die niemand kann, hierin einen Ausschlag geben; eben so wenig auch, was aus ihm werden könne. Hierüber müssen wir also das Urtheil dem Allsehenden überlassen, welches hier so ausgedrückt wird, als ob, ehe sie geboren wurden, sein Rathschluß, über sie ausgesprochen, einem jeden seine Rolle vorgezeichnet habe, die er einst spielen sollte. Das Vorhersehen ist in der Ordnung der Erscheinungen für den Welturheber, wenn er hiebei selbst anthropopathisch gedacht wird, zugleich ein Vorherbeschließen. In der übersinnlichen Ordnung der Dinge aber nach Freiheitsgesetzen, wo die Zeit wegfällt, ist es bloß ein allsehendes Wissen, ohne, warum der eine Mensch so, der andere nach entgegengesetzten Grundsätzen verfährt, erklären und doch auch zugleich mit der Freiheit des Willens vereinigen zu können.      
           
     

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