Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 120

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Principien (das eine empirisch, das andere rational), über die,      
  02 ob man von einem oder dem andern ausgehen und anfangen müßte, ein      
  03 wahrer Widerstreit der Maximen eintreten würde, den aber auch keine      
  04 Vernunft je würde schlichten können. - Der Satz: Man muß glauben,      
  05 daß es einmal einen Menschen, der durch seine Heiligkeit und Verdienst      
  06 sowohl für sich (in Ansehung seiner Pflicht) als auch für alle andre (und      
  07 deren Ermangelung in Ansehung ihrer Pflicht) genug gethan, gegeben      
  08 habe (wovon uns die Vernunft nichts sagt), um zu hoffen, daß wir selbst      
  09 in einem guten Lebenswandel, doch nur kraft jenes Glaubens selig werden      
  10 können, dieser Satz sagt ganz etwas anders als folgender: man mu      
  11 mit allen Kräften der heiligen Gesinnung eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels      
  12 nachstreben, um glauben zu können, daß die (uns schon durch      
  13 die Vernunft versicherte) Liebe desselben zur Menschheit, sofern sie seinem      
  14 Willen nach allem ihrem Vermögen nachstrebt, in Rücksicht auf die redliche      
  15 Gesinnung den Mangel der That, auf welche Art es auch sei, ergänzen      
  16 werde. - Das erste aber steht nicht in jedes (auch des ungelehrten)      
  17 Menschen Vermögen. Die Geschichte beweist, daß in allen Religionsformen      
  18 dieser Streit zweier Glaubensprincipien obgewaltet hat; denn      
  19 Expiationen hatten alle Religionen, sie mochten sie nun setzen, worein sie      
  20 wollten. Die moralische Anlage in jedem Menschen aber ermangelte ihrerseits      
  21 auch nicht, ihre Forderungen hören zu lassen. Zu aller Zeit klagten      
  22 aber doch die Priester mehr als die Moralisten; jene nämlich laut (und      
  23 unter der Aufforderung an Obrigkeiten, dem Unwesen zu steuern) über      
  24 Vernachlässigung des Gottesdienstes, welcher, das Volk mit dem Himmel      
  25 zu versöhnen und Unglück vom Staat abzuwenden, eingeführt war; diese      
  26 dagegen über den Verfall der Sitten, den sie sehr auf die Rechnung jener      
  27 Entsündigungsmittel schrieben, wodurch die Priester es jedermann leicht      
  28 machten, sich wegen der gröbsten Laster mit der Gottheit auszusöhnen. In      
  29 der That, wenn ein unerschöpflicher Fond zu Abzahlung gemachter oder      
  30 noch zu machender Schulden schon vorhanden ist, da man nur hinlangen      
  31 darf (und bei allen Ansprüchen, die das Gewissen thut, auch ohne Zweifel      
  32 zu allererst hinlangen wird), um sich schuldenfrei zu machen, indessen daß      
  33 der Vorsatz des guten Lebenswandels, bis man wegen jener allererst im      
  34 Reinen ist, ausgesetzt werden kann: so kann man sich nicht leicht andre      
  35 Folgen eines solchen Glaubens denken. - Würde aber sogar dieser Glaube      
  36 selbst so vorgestellt, als ob er eine so besondere Kraft und einen solchen      
  37 mystischen (oder magischen) Einfluß habe, daß, ob er zwar, so viel wir      
           
     

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