Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 111 |
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01 | so lange gedeutet haben, bis sie dieselbe ihrem wesentlichen Inhalte nach | ||||||
02 | nachgerade mit den allgemeinen moralischen Glaubenssätzen in Übereinstimmung | ||||||
03 | brachten. Die Moralphilosophen unter den Griechen und nachher | ||||||
04 | den Römern machten es nachgerade mit ihrer fabelhaften Götterlehre | ||||||
05 | eben so. Sie wußten den gröbsten Polytheism doch zuletzt als bloße symbolische | ||||||
06 | Vorstellung der Eigenschaften des einigen göttlichen Wesens auszudeuten | ||||||
07 | und den mancherlei lasterhaften Handlungen, oder auch wilden, | ||||||
08 | aber doch schönen Träumereien ihrer Dichter einen mystischen Sinn unterzulegen | ||||||
09 | der einen Volksglauben (welchen zu vertilgen nicht einmal rathsam | ||||||
10 | gewesen wäre, weil daraus vielleicht ein dem Staat noch gefährlicherer | ||||||
11 | Atheism hätte entstehen können) einer allen Menschen verständlichen und | ||||||
12 | allein ersprießlichen moralischen Lehre nahe brachte. Das spätere Judenthum | ||||||
13 | und selbst das Christenthum besteht aus solchen zum Theil sehr gezwungenen | ||||||
14 | Deutungen, aber beides zu ungezweifelt guten und für alle | ||||||
15 | Menschen nothwendigen Zwecken. Die Muhammedaner wissen (wie | ||||||
16 | Reland zeigt) der Beschreibung ihres aller Sinnlichkeit geweihten Paradieses | ||||||
17 | sehr gut einen geistigen Sinn unterzulegen, und eben das thun die | ||||||
18 | Indier mit der Auslegung ihres Vedas, wenigstens für den aufgeklärteren | ||||||
19 | Theil ihres Volks. - Daß sich dies aber thun läßt, ohne eben immer | ||||||
20 | wider den buchstäblichen Sinn des Volksglaubens sehr zu verstoßen, kommt | ||||||
21 | daher: weil lange vor diesem letzteren die Anlage zur moralischen Religion | ||||||
22 | in der menschlichen Vernunft verborgen lag, wovon zwar die ersten rohen | ||||||
23 | Äußerungen bloß auf gottesdienstlichen Gebrauch ausgingen und zu diesem | ||||||
24 | Behuf selbst jene angeblichen Offenbarungen veranlaßten, hierdurch aber | ||||||
25 | auch etwas von dem Charakter ihres übersinnlichen Ursprungs selbst in | ||||||
26 | diese Dichtungen, obzwar unvorsetzlich, gelegt haben. - Auch kann man | ||||||
27 | dergleichen Auslegungen nicht der Unredlichkeit beschuldigen, vorausgesetzt | ||||||
28 | daß man nicht behaupten will, der Sinn, den wir den Symbolen des | ||||||
29 | Volksglaubens oder auch heiligen Büchern geben, sei von ihnen auch durchaus | ||||||
30 | so beabsichtigt worden, sondern dieses dahin gestellt sein läßt und nur | ||||||
31 | die Möglichkeit, die Verfasser derselben so zu verstehen, annimmt. Denn | ||||||
32 | selbst das Lesen dieser heiligen Schriften, oder die Erkundigung nach ihrem | ||||||
33 | Inhalt hat zur Endabsicht, bessere Menschen zu machen; das Historische | ||||||
34 | aber, was dazu nichts beiträgt, ist etwas an sich ganz Gleichgültiges, mit | ||||||
35 | dem man es halten kann, wie man will. - (Der Geschichtsglaube ist "todt | ||||||
36 | an ihm selber", d. i. für sich, als Bekenntniß betrachtet, enthält er nichts, | ||||||
37 | führt auch auf nichts, was einen moralischen Wert für uns hätte). | ||||||
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