Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 110

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Um aber nun mit einem solchen empirischen Glauben, den uns dem      
  02 Ansehen nach ein Ungefähr in die Hände gespielt hat, die Grundlage eines      
  03 moralischen Glaubens zu vereinigen (er sei nun Zweck oder nur Hülfsmittel),      
  04 dazu wird eine Auslegung der uns zu Händen gekommenen Offenbarung      
  05 erfordert, d. i. durchgängige Deutung derselben zu einem Sinn,      
  06 der mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion      
  07 zusammenstimmt. Denn das Theoretische des Kirchenglaubens kann uns      
  08 moralisch nicht interessiren, wenn es nicht zur Erfüllung aller Menschenpflichten      
  09 als göttlicher Gebote (was das Wesentliche aller Religion ausmacht)      
  10 hinwirkt. Diese Auslegung mag uns selbst in Ansehung des Texts      
  11 (der Offenbarung) oft gezwungen scheinen, oft es auch wirklich sein, und      
  12 doch muß sie, wenn es nur möglich ist, daß dieser sie annimmt, einer solchen      
  13 buchstäblichen vorgezogen werden, die entweder schlechterdings nichts      
  14 für die Moralität in sich enthält, oder dieser ihren Triebfedern wohl gar      
  15 entgegen wirkt ). - Man wird auch finden, daß es mit allen alten und      
  16 neuern, zum Theil in heiligen Büchern abgefaßten, Glaubensarten jederzeit      
  17 so ist gehalten worden, und daß vernünftige, wohldenkende Volkslehrer sie      
           
    †) Um dieses an einem Beispiel zu zeigen, nehme man den Psalm 59 , V. 11 - 16, wo ein Gebet um Rache, die bis zum Entsetzen weit geht, angetroffen wird. Michaelis (Moral, 2ter Teil, S. 202) billigt dieses Gebet und setzt hinzu: "Die Psalmen sind inspirirt; wird in diesen um Strafe gebeten, so kann es nicht unrecht sein, und wir sollen keine heiligere Moral haben als die Bibel". Ich halte mich hier an dem letzteren Ausdrucke und frage, ob die Moral nach der Bibel oder die Bibel vielmehr nach der Moral ausgelegt werden müsse. - Ohne nun einmal auf die Stelle des N. T. "Zu den Alten wurde gesagt, u. s. w.. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, u. s. w." Rücksicht zu nehmen, wie diese, die auch inspirirt ist, mit jener zusammen bestehen könne, werde ich versuchen, sie entweder meinen für sich bestehenden sittlichen Grundsätzen anzupassen (daß etwa hier nicht leibliche, sondern unter dem Symbol derselben die uns weit verderblicheren unsichtbaren Feinde, nämlich böse Neigungen, verstanden werden, die wir wünschen müssen völlig unter den Fuß zu bringen), oder will dieses nicht angehen, so werde ich lieber annehmen: daß diese Stelle gar nicht im moralischen Sinn, sondern nach dem Verhältniß, in welchem sich die Juden zu Gott als ihrem politischen Regenten betrachteten, zu verstehen sei, so wie auch eine andere Stelle der Bibel, da es heißt: "Die Rache ist mein; ich will vergelten! spricht der Herr", die man gemeiniglich als moralische Warnung vor Selbstrache auslegt, ob sie gleich wahrscheinlich nur das in jedem Staat geltende Gesetz andeutet, Genugthuung wegen Beleidigungen im Gerichtshofe des Oberhauptes nachzusuchen, wo die Rachsucht des Klägers gar nicht für gebilligt angesehen werden darf, wenn der Richter ihm verstattet, auf noch so harte Strafe, als er will, anzutragen.      
           
     

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