Kant: Briefwechsel, Brief 859, Von Georg Samuel Albert Mellin. |
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Von Georg Samuel Albert Mellin. | |||||||
13. April 1800. | |||||||
Empfangen Sie hiermit, Verehrungswürdigster Lehrer und Freund | |||||||
die zweite Abtheilung des II Bandes des encyclopädischen Wörterbuchs. | |||||||
Möchte dieses Werk auch in der Fortsetzung Ihres mir über | |||||||
alles schätzbaren Beifalls nicht ganz unwürdig seyn -. | |||||||
Mein Sohn hat mir geschrieben, daß er die Freude gehabt hat, | |||||||
Ihnen aufzuwarten; er war mit dem Geh. Rath Eytelwein und Leut. | |||||||
von Textor bei Ihnen. Mir würde es ein unbeschreibliches Vergnügen | |||||||
seyn, den Mann, welchen ich unter allen jetzt lebenden Menschen am | |||||||
meisten verehre und bewundere, persönlich kennen zu lernen, aber die | |||||||
Entfernung ist zu groß: Möchte es der Vorsehung gefallen Ihnen in | |||||||
Ihrem Alter Gesundheit und Kräfte zu schenken! Ihre Erklärung | |||||||
gegen Fichte hat viel Sensation gemacht, aber sie war nöthig. Der | |||||||
vortrefliche Schluß dieser Erklärung hat mich recht gestärkt und ist | |||||||
mir aus der Seele geschrieben. Nun hat man wieder das mißverstanden, | |||||||
was Sie in dieser Erklärung über die Vollständigkeit der | |||||||
Grundlinien Ihrer Transscendentalphilosophie in der Critik der reinen | |||||||
Vernunft gesagt haben, und meint die Behauptung darin zu finden, | |||||||
Sie hätten bereits das vollständige und ausführliche System der | |||||||
Transscendentalphilosophie geliefert, welches doch mit so vielen Stellen | |||||||
der Critik in Widerspruch stehe. In der Oberdeutschen Lit. Zeit. ist | |||||||
darüber viel geschwazt worden. | |||||||
Ich habe viel über den dogmatischen Vortrag des Systems | |||||||
der Transscendentalphilosophie nachgedacht. Es ist dabei die eigene | |||||||
Schwierigkeit, daß man die Kategorien schon immer gebrauchen muß, | |||||||
ehe man sie noch untersucht und die Theorie derselben vorgetragen | |||||||
hat. Soll man die Theorie von Raum und Zeit, die transscend. | |||||||
Idealität derselben, als durch die Critik ausgemacht, vorausgesetzt, | |||||||
folglich bloß die verschiedenen Modos derselben, und ihre Analysis, | |||||||
vor der Theorie der Kategorien vortragen; so muß man dise schon | |||||||
dazu gebrauchen; dies ist nun nicht erlaubt. Soll man aber die Lehre | |||||||
von Raum und Zeit nach der Theorie der Kategorien vortragen, so | |||||||
fehlts den Kategorien an der Realisirung durch Schemate. Soll man | |||||||
beides mit einander verbinden, so kann man die transscend. Aesthetik | |||||||
nicht von der Analytik des reinen Verstandes trennen. Dise Schwierigkeit | |||||||
giebt auch einen eigenen Einwurf gegen die kritische Philosophie, | |||||||
den mir bereits ein Freund gemacht hat, nehmlich, da wir doch die | |||||||
Kategorien z. B. die der Causalität u.s.w. gebrauchen um über die | |||||||
transsc. Beschaffenheit des Raumes und der Zeit nachzudenken, so ist | |||||||
selbst diese Erkenntniß nur Erscheinung, woraus dann folgt, daß wir | |||||||
nur genöthigt sind, uns den transsc. Idealismus, als das einzige | |||||||
richtige System von der Möglichkeit der Erfahrung vorzustellen, | |||||||
nicht aber behaupten können, daß es das wahre System von der Möglichkeit | |||||||
der Erfahrung an sich selbst sei. Ich erinnere mich nicht mehr, | |||||||
wie mein abwesender Freund sich hierüber ausdrückte, aber das, was | |||||||
ich jetzt geschrieben habe, enthält wenigstens seinen Hauptgedanken. | |||||||
Er war vor anderthalb Iahren willens das System eines transsc. | |||||||
Realismus herauszugeben, doch mit Beibehaltung einer ganzen Reihe | |||||||
der wichtigsten Lehren der Critik der rein. Vern. Es ist schade, da | |||||||
in der Critik d. r. V. nicht zur Beantwortung dises Einwurfs ein | |||||||
Wink gegeben ist. Auf einen besondern Fall angewendet kann man | |||||||
disen Einwurf auch so ausdrücken: sagt die Deduction der Kategorien | |||||||
nicht durch die Art, wie sie geführt wird: man gebe mir zu, daß ich | |||||||
den Begriff der Ursache gebrauchen dürfe, um die Realität dieses Begriffs | |||||||
zu zeigen, so will ich die Realität desselben für die Erfahrungserkenntniß | |||||||
darthun; und ist das nicht ein Cirkel? Die Schwierigkeit | |||||||
liegt freilich nicht in dem kritischen System, sondern in der Natur | |||||||
einer sinnlichen und discursiven Erkenntniß. Unsre Erkenntniß a priori | |||||||
ist, der Natur unseres Erkenntnißvermögens gemäß, etwas in unserm | |||||||
innern Sinn befindliches, und in so fern selbst Erscheinung und wir | |||||||
können freilich nicht wissen, was sie an sich seyn mag. Wir können | |||||||
daher auch von der Möglichkeit der Erfahrung, als etwas an sich, | |||||||
nichts wissen, sondern nur wie sinnlich erkennende Wesen sich die | |||||||
Möglichkeit der Erfahrung vorstellen müssen, wie Gott unsre Erfahrungserkenntniß | |||||||
sich vorstellt, wissen wir nicht. | |||||||
Verzeihen Sie verehrungswürdigster Freund, daß ich Sie so weitläuftig | |||||||
von einem Gegenstande unterhalten habe, der Ihnen nicht | |||||||
fremd ist, der mir aber wichtig ist, weil er mich bisher noch immer | |||||||
abgehalten hat, Hand an ein System der Transscendentalphilosophie zu | |||||||
legen, das ich gar zu gern zu Stande gebracht sehen möchte. Was | |||||||
man bisher darin geleistet hat, ist fast für nichts zu rechnen. Das | |||||||
Schmidsche Werk ist ohne alle Deduction der Vollständigkeit der Prädicabilien, | |||||||
ohne alle Untersuchung der Moden des Raums und der | |||||||
Zeit. Die Recension diser Metaphysik in der Literat. Zeitung ist | |||||||
sonderbar genug, und behauptet es sei ein von der Critik abgesondertes | |||||||
System nicht nöthig. | |||||||
O könnte ich Ihnen doch 20 Iahre von Ihrem Alter abnehmen! | |||||||
Möchte das jetzige Iahr Ihrer Gesundheit recht günstig seyn. Das | |||||||
wünscht gewiß Niemand von Ihren unzähligen Verehrern mit größerer | |||||||
Innigkeit und Theilnehmung als | |||||||
Ihr | |||||||
ewig dankbarer und treuer | |||||||
Magdeburg den 13 April 1800. | Verehrer Mellin. | ||||||
Ich hatte diesen Brief schon längst geschrieben, als mich eine | |||||||
tödtliche Krankheit meiner geliebten Frau zu allem unfähig machte, | |||||||
was Freude gewähren kann. Sie starb mir den 29ten März und ihr | |||||||
Tod machte mich zum zweitenmal zum Wittwer. Sie hinterläßt mir | |||||||
5 Kinder, die nun nebst 3 Kindern erster Ehe, ganz meiner Vorsorge | |||||||
allein überlassen sind. | |||||||
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