Kant: Briefwechsel, Brief 847, Von Iohann Heinrich Immanuel Lehmann.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iohann Heinrich Immanuel Lehmann.      
           
  13. Nov. 1799.      
           
  Wohlgebohrner, Hochgelahrter Herr,      
  Höchstzuverehrender Herr Professor,      
  Mein mir ewig theurer Gönner!      
           
  Ihre gütige Zuschrift vom 2ten September durch den Herrn Meyer      
  habe ich richtig, obgleich erst spät im October, erhalten. Mit wahrer      
  Freude ersehe ich aus selbiger, daß Ew. Wohlgebohrnen sich noch meiner      
  erinnern und daß Sie meine vorigen Briefe erhalten haben. Was      
  mich aber sehr traurig macht, ist die Beschwerde, welche Ew. Wohlgebohrn      
  einfließen lassen, über eine spastische Kopf=Bedrückung Ihrer.      
  Nerven; theils des äußerst unangenehmen Zustandes wegen in Ihren      
  Iahren; theils aber auch weil Sie dadurch sehr gehindert werden, den      
  Plan Ihrer Philosophie zu vollenden und Ihrem System den Kranz      
  aufzusetzen. Es sind hier mehrere die mit Ihnen in diesem abgewichenen      
  Iahre über eine Spannung der Nerven sich beklagen und die      
  solches ebenfals einer besonderen Electricität der Luft zuschreiben Sollte      
  diese Erscheinung in der Sonne ihren Grund haben? Von welcher      
  Herschel sagt, daß sie in diesem Frühling und Sommer ohne alle Flecken      
  von ihm gesehen worden. Vieleicht ließ sich auch daraus das viele      
  Blutspeyen erklären, welches in dieser Gegend umher diesen Sommer      
  statt gefunden hat. Genug daß in der Athmosphäre eine große Veränderung      
  vorgefallen seyn muß; denn nie habe ich ein Iahr mit so      
  abwechselnder Witterung verlebt, wie das vergangene. Im Winter die      
  unerträgliche Kälte und abwechselnd fürchterliche Gewitter, im Frühling      
  Sommer so viel Regen, daß der Acker so wenig bearbeitet als      
  die Früchte und das Heu geerndtet werden konnten. Den 24ten Iuni      
  und den 7ten September fror es hier so stark, daß das Eis die Dicke      
  eines Thalers hatte und daß fast alle Gemüse erfroren. Seit Menschen      
  Gedenken weiß man sich hier nicht ein solches Iahr zu erinnern.      
           
  So schlecht indeß die Witterung in diesem Sommer war: so ist      
  doch das Wachsthum des Getreides und der Lebensmittel und mithin      
  der Einschnit an sich sehr gut gewesen. Nur verdarben die Früchte      
  auf dem Felde und selbst am Ende Octobers, was Ihnen unglaublich      
  scheinen wird, war hier noch Hafer und Gerste auf den Feldern. Die      
           
  Theurung der Lebensmittel ist hier daher sehr groß und die Gemüse      
  müßen fast mit Geld aufgewogen werden. Der Grund davon liegt      
  zum Theil in der Unterhaltung der Preußischen Demarcations=Linie      
  aus den hiesigen Landen, dann aber vorzüglich in dem Englischen      
  Kreutzuge gegen Holland, wo das Land durch die Last Lebensmittel      
  zur Armee zu liefern, geplündert ward. Dieses erstreckte sich sogar      
  bis auf die jungen Cartoffeln, die ausgerissen wurden, um der Armee      
  Unterhalt zu verschaffen. Die vielen und großen Fallissements in den      
  großen Handels=Oertern eußern auch schon ihre nachtheiligen Folgen      
  in den kleinern Städten, wo nicht nur allgemeines Mistrauen und Unsicherheit      
  des Eigenthums herrscht, sondern auch schon das baare Geld      
  zu verschwinden anfängt.      
           
  Auf der hiesigen Universität indeß, gehet alles seinen alten Gang      
  fort, ohne sich eben an die äußern Zeitläufte zu kehren. Im Herzen      
  ist man über das Glück der Coalition äußerst besorgt und wenn man      
  sich über den Verlust der Franzosen auch äußerlich freuen muß (: denn      
  so will es die geheime Polizey :): so giebt doch das Verfahren der      
  Russen und Oestreicher mit Turin und Pavia für die Zukunft einen      
  solchen Prospect; daß Heyne schon jetzo in seinen Programmen gegen      
  dieses System zu Felde ziehet, und Stäudlin die Nichtexistenz des      
  Atheismi in der critischen Philosophie zu verfechten suchet.      
           
  Unsere Iuristen sind gut; allein was über das Corpus Juris      
  Justinianeum, Canonicum & Germanicum auch hinnausgehet, das ist      
  ihnen eine Sünde. Die hiesigen Theologen lassen sich dann und wann      
  noch wohl einfallen, von dem Buchstaben der heiligen Schriften abzugehen.      
  Aber für diesen Vorwiz läßt Hanover sie auch schwer büßen.      
           
  Von den Medicinern weiß man selbst nicht recht, was man von ihnen      
  halten soll. Manche lassen ihre Kranke so roboriren, daß sie vor lauter      
  Gesundheit an Obstructionen sterben; manche lassen sie zu Tode purgiren      
  und so bringt man sie denn, je nachdem sie sich zu diesem oder      
  zu jenem System bekennen, in diese oder jene Classe.      
           
  Die Philosophie, in so fern sie sich mit Anschauungen a priori beschäftigt,      
  auf Gegenstände der Erfahrung, auf Geschichte und Humaniora      
  gehet, wird hier mit vielem Fleiße getrieben, wozu aber die      
  schöne hiesige, und fast einzige Bibliotheck sehr viel beytragen mag und      
  vieleicht das Sammeln als Verdienst angerechnet werden dürfte. Was      
  aber die Philosophie aus Begriffen angehet: so siehet es damit hier      
           
  sehr traurig aus. Auf einer Universität von mehr als 900 Studenten,      
  kömmt nicht einmahl ein Collegium der Logik zu Stande, geschweige      
  in andern Theilen der Philosophie. Herr Buhle hat von allen seinen      
  Collegien nur die Geschichte der Philosophie zu Stande gebracht, wo      
  er 9 Zuhörer hat und Herr Bouterwek kein Philosophisches Collegium.      
  Ob nun die Herrn hieran selbst Schuld sind, oder ob die gänzliche      
  Verachtung dieser Wissenschaft in den Umständen zu setzen ist, mag ich      
  nicht entscheiden. So viel weiß ich wohl, daß beyde die Philosophie      
  nicht nach ihrem Geschmack vortragen; der eine alles mit Zucker der      
  Aestetik versüßet und ekelhaft macht; der andere noch immer die Alten      
  presset: beyde aber selbst noch nicht wissen, ob sie Protestanten oder      
  Catholicken der critischen Philosophie seyn wollen (: von ihnen selbst      
  beliebte Ausdrücke :); ungeachtet sie mir in allen Sätteln gerecht und      
  nicht bloß Kantianer sondern auch Fichtianer und Gott weiß was nicht      
  noch mehr zu seyn scheinen.      
           
  Die Lichtenbergische Stelle ist jetzt besetzet mit dem Hofrath Meyer      
  aus Erlangen, einem Sohne des großen Mathematikers Tobias Meyer.      
  Er hat ebenfalls eine sehr gründliche Kenntniß der Mathematik Physik      
  und Chymie; auch einen bessern Vortrag als der seelige Lichtenberg;      
  allein bey weitem nicht den Geschmak und die Geistvolle Manier in      
  der Schreibart. Lichtenberg starb an einer Brustkrankheit die mit      
  Blut=Auswurf verbunden und von Aergerniß entstanden war. Er lag      
  nur 4 Tage krank. Er hinterläßt eine Frau die Anfangs seine Concubine      
  war mit 6 unmündigen Kindern, ohne alles Vermögen Die      
  Witwe erhält jetzt 200 Thlr. Pension solange bis das jüngste Kind      
  welches 2 Iahr alt ist, 18 Iahr alt seyn wird. Daß Lichtenberg so früh      
  starb, daran war er wohl zum Theil selbst Schuld. Er führte bey      
  seiner von Natur schwachen körperlichen Constitution (: denn er war      
  ganz verwachsen :) und bey seiner sitzenden Lebensart ein recht wüstes      
  Leben. Des Morgens stand er spät auf, gleich darauf trank er Kaffee,      
  Spanischbitter und Wein. Zu Mittage ward auch wieder Wein getrunken.      
  Nachmittag wieder Wein und Liquör, um sich immer munter      
  zum Schreiben zu erhalten. Des Abends wurden viel Eyerspeisen gegessen      
  und die halbe Nacht durch gelesen oder geschrieben. Nie verlie      
  er sein Zimmer und genoß die frische Luft. Natürlich war es,      
  daß es so kommen mußte, wie es kam; weil seine Lebensart auf die      
  Länge nicht dauern konnte.      
           
           
  Die Lobschrift auf Lichtenberg machte Herr Kästner, eigentlich ein      
  Elogium auf sich selbst. Er las selbige in der hiesigen Societät der      
  Wissenschaften vor, zu einer Zeit, wo auch Heyne eine Lobrede auf      
  Gatterern hielt, die aber mit der vorigen in verzweifelten Contrast      
  stand. Heyne ließ Gatterern von Seiten seiner Gelehrsamkeit und      
  seines Herzens Gerechtigkeit wiederfahren. Kästner lobte sich selbst, mit      
  witzigen Ausfällen auf andere Heyne redete ein fließendes und geschmackvolles      
  Latein, Kästner schrie immer ego etiam und weiter verstand      
  man ihm nichts. Überhaupt bey Vacanz der Lichtenbergischen      
  Stelle, nahm sich Herr Kästner sehr schlecht und gab ein Beyspiel der      
  niedrigsten Cabale; wie Sie aus Beyliegendem ersehen werden, und      
  welches nicht das erste Mahl gewesen seyn soll. Sein von ihm protegirtes      
  Subject, Herr Wildt, ist ein sehr unwissender und aufgeblasener      
  Mensch und mit dessen Empfehlung Herr Kästner diesen Sommer keine      
  Ehre eingeerndtet hat.      
           
  Hoffentlich wird meine Mutter schon ihre Schuldigkeit beobachtet und      
  Ew. Wohlgebohrnen mit getrocknetem Obst versorget haben. Das im vorigen      
  Iahre verlohren gegangene zu erstatten, war meiner Mutter unmöglich.      
           
  Sobald die Würste gehörig getrocknet seyn werden, werde ich Ihnen      
  einige Pfunde überschicken, weil ich weiß, daß die Nicoloviusschen doch      
  immer erst spät ankommen.      
           
  Mein Farenheid läßt sich Ihnen gehorsamst empfehlen. Mit vielem      
  Vergnügen denkt er noch oft an die gütige Bewirthung, die Ew. Wohlgebohrnen      
  ihm erwiesen. Wir beyde sind gesund und leben miteinander      
  sehr glücklich.      
           
  Darf ich gehorsamst bitten, mich Ihrer hochgeehrten Tisch=Gesellschaft,      
  in so fern sie mich kennet und sich meiner erinnert, angelegentlichst      
  zu empfehlen.      
           
  Möchten Sie wenigstens, wenn nicht ganz gesund, doch so erträglich      
  als möglich sich befinden Glauben Sie es nur, daß Niemand in der Welt      
  dies mehr wünschet und mehr an Sie denket und von Ihnen spricht, als      
           
    Ew Wohlgebohrnen      
    Meines höchstzuverehrenden Herrn Professors      
    gehorsamster Diener, und      
  Göttingen dankbarster Schüler      
  den 13ten November JIIILehmann.      
  1799.        
           
           
           
           
     

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