Kant: Briefwechsel, Brief 703, Von Daniel Ienisch.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Daniel Ienisch.      
           
  20. April 1796.      
           
  Sendschreiben      
  an Herrn Professor Kant in Königsberg.      
           
  Verehrungswürdiger Greis!      
  Innigst=geliebter Lehrer!      
           
  Denn des unschätzbaren Glücks erfreue ich mich, den ersten Tiefdenker      
  des Iahrhunderts, den σοφον Teutschlands, als denjenigen      
  nennen zu können, dessen Lehren, von ihm selbst vorgetragen mit jener      
  Stimme der durch ihre eigne Anspruchlosigkeit überzeugenden Wahrheit,      
  mit jenem Ernst, jener Würde, womit die Weisheit selbst ihre Zuhörer      
  ermahnen würde, den ungebildeten Geist des sechzehnjährigen Iünglings      
  erleuchteten; dessen Hand mich in das Gefilde der Wissenschaften einführte,      
  welches damals so ausgearbeitet vor mir lag, und, durch die      
  Geringfügigkeit meiner Kräfte, in der Folge für mich so enge beschränkt      
  ward; dessen edle Theilnahme endlich gewisse wesentliche Abschnitte des      
  sich selbst überlassenen Iünglings, und durch diese, auch des Mannes,      
  bestimmte.      
           
  Wäre der, von Teutschland immer mit Ehrfurcht ausgesprochene,      
  Name Kant, seit mehr als einem Dezennium insbesondere, auch nicht      
  die Losung des ungetheiltesten Ruhms und litterarischer Verdienste,      
  wie er es nun, so allgemein=anerkannt, ist: so würde noch der Gedanke,      
  zu den Füßen dieses Weisen gesessen zu haben, mich immer begeistern:      
  so würde das Gefühl, daß er es einst würdigte, mich seiner Theilnehmung      
  nicht ganz gleichgültig seyn zu lassen, noch ein Stolz für      
  mein Herz seyn.      
           
  Denn so viele Iünglinge, denen Sie vorsorgender Vater waren;      
  so viele Wohlthaten, deren Segen der Genießer empfand, ohne die      
           
  Hand zu kennen, aus welcher sie ihm zuflossen; so viele Handlungen      
  der anspruchlosesten Gemeinnützigkeit, der reinsten Wahrheit= und      
  Tugendliebe, reden es laut, daß Kant, der Weise, der Mensch, eben      
  so sehr die Achtung der Welt, als, der Tiefdenker, ihre Bewunderung      
  seyn muß; daß er jene erhabene Sittenlehre, die er vorträgt, aus      
  seinem eigenen Herzen abschrieb; daß er der kategorische Imperativ      
  seines eigenen Systems ist.      
           
  Der sechzehnjährige Iüngling ist ein und dreißigjähriger Mann      
  geworden.      
           
  Aber die Gefühle der Dankbarkeit, der Ehrfurcht, der Hochachtung,      
  erfüllen, ungeschwächt und unvergeßlich, diese Seele: und werden nur      
  mit dem Herzen zugleich ersterben, welches sie so lebendig durchwallen.      
           
  Als Kosmopolit, als Mensch, als Ihr Schüler, überschaue ich,      
  mit jedem aufmerksamen Beobachter der Fortschritte des menschlichen      
  Geistes, nicht ohne den reinsten Wonnegenuß, die unschätzbaren Vortheile,      
  welche durch Ihre Bemühungen unserm teutschen Vaterlande,      
  unserm Iahrhundert, schon seit der kurzen Zeit der Verbreitung Ihrer      
  unsterblichen Werke, erwachsen: erwachsen sind für die Berichtigung,      
  Erweiterung und Vervollkommnung wesentlicher und vielleicht der      
  wesentlichsten Theile menschlicher Erkenntniß; und - was noch mehr      
  als dies sagen will - für den höheren Schwung des Denkens      
  und Forschens, mit welchem Sie eine so große Menge vortreflicher      
  Geister unter Ihren Zeitgenossen angeregt.      
           
  Die alten Fehden der Vernunft mit sich selbst sind mit einer      
  Unbefangenheit, einer Strenge beleuchtet, mit einem Tiefsinn durchforschet,      
  wie sie's in den Iahrbüchern der Philosophie noch nie waren:      
  sind vielleicht auf immer - entschieden.      
           
  Der herrschende Materialismus unserer philosophischen und theologischen      
  Moralsysteme weichet, beschämt und verwirrt, dem erhabenen      
  System der Würde der Menschheit: und die von je her dunkelgeahnete,      
  von allen edlen Herzen lebendig=gefühlte reine Gesetzgebung      
  der Vernunft für die Handlungen denkender Naturen, strahlet, durch      
  Ihren Tiefsinn geläutert von jeder fremden Beimischung, in verklärter      
  Glorie.      
           
  Natur= und Völker=Recht, von einigen unserer besseren Weisen      
  sogar einer menschheit=unterjochenden Politik gefährlich angebogen, erheben,      
  die Tafeln ewiger Gerechtsame in der Hand, welche der Königsberger=Lykurg      
           
  uns aufgezeichnet und erkläret hat, eine freie, stolze Stirn,      
  und trotzen jeder gegenwärtigen und jeder künftigen Tirannensophisterei.      
           
  Die Prinzipien des Schönen und Erhabenen sind, mit bewundernswürdiger      
  Mikroscopie ächt=philosophischer Analyse, bis in ihre      
  ursprünglichen Bestandtheile zerlegt, und schöne Kunst und Genie      
  lernen, ihre glücklichsten Kraftäußerungen auf die höchsten Zwecke      
  der Menschheit, auf wahre Veredelung des Geistes und des      
  Herzens, hinrichten.      
           
  In diesen, und so manchen andern Wissenschaften, sind, Dank sey's      
  Ihrem alles=durchschauenden Scharfsinn, verjährte Vorurtheile widerlegt      
  und niedergekämpft; tiefgewurzelte Irrthümer ausgerottet; alte Wahrheiten      
  neu=beleuchtet; neue entdeckt.      
           
  Die Telescope, die Mikroscope liegen da, Arbeiten Ihres Genies:      
  und erwarten - jene ihre Hevelius und Herrschel; diese - ihre      
  Reaumure und Löwenhooke.      
           
  Nicht minder schätzenswerth, und schätzenswerther vielleicht als      
  alles dies, ist der Geist des ernsten Nachdenkens, der anhaltenden      
  Prüfung, des tieferen Forschens und Eindringens, den Sie durch Ihre      
  Werke einer Zeitgenossenschaft mitzutheilen gewußt, die, angesteckt mit      
  jenem, des Iahrhunderts der Vernunft so unwürdigen, Sinn der      
  Kleinlichkeit, der Flatterhaftigkeit, der oberflächlichen Beurtheilung der      
  Dinge, die Untersuchungen über gewisse wichtige und angelegentliche      
  Wahrheiten, (vielleicht die angelegentlichsten und wichtigsten unter      
  allen) nicht allein ganz aus dem Auge, sondern sogar fast alles Interesse      
  dafür, verloren hatte.      
           
  In der That! der Verfasser der unsterblichen Werke der Kritik      
  der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft, der Kritik der Urtheilskraft,      
  mußte seine Zeitgenossen durch diesen Tiefsinn, diese Fruchtbarkeit      
  der Ideen, diese außerordentliche Feinheit in der Zerlegung der      
  Begriffe, in Erstaunen setzen, die uns jezt aus denselben entgegenstrahlen;      
  wenn es ihm gelingen sollte, was ihm nun so glorreich gelungen ist:      
  den alles=verflüchtigenden Leichtsinn des Iahrhunderts zur ernsten      
  Weisheit, die alles=entscheidende, und nichts=ergründende Oberflächlichkeit      
  zu der äußersten Anstrengung der Denk= und Forsch=Kraft, zurückzurufen;      
  alte, längst=vergessene, längst=entschieden=geglaubte Streitigkeiten      
  zum Gegenstande der eifrigsten Untersuchungen zu machen; und      
  den Zeit=geist kleinlicher Gewinnsucht, tändelnder Kunstliebhaberey,      
           
  und sentimentalisirender Moral, in die - gleichsam ätherischen      
  Regionen der feinsten Speculation emporzuheben.      
           
  Denn ansehnlich ist die Zahl scharfsinniger Geister, welche, durch      
  das tiefere Studium Ihrer Werke belebt und gleichsam angeglüht, sich      
  über diesen Geist des Zeitalters hinausschwingen; und, zum Theil, als      
  vortrefliche Denker und geschätzte Schriftsteller in Teutschland glänzen.      
           
  Von welcher Achtung ich gegen einige derselben durchdrungen bin,      
  das zeigt so manche Stelle dieses Werkes.      
           
  Aber wenn die Gaben des Himmels selbst von Menschen=hand      
  so oft und so mannigfaltig gemißbraucht werden: wie konnten die      
  Früchte Ihres Geistes diesem allgemeinen Loose der Dinge entgehen?      
           
  Mit Unwillen bemerket der unpartheiische Beobachter der neuesten      
  philosophischen Litteratur: daß jener analytische Geist, der, in Ihrer      
  Hand, ein Mikroscop ist, vor welchem die Natur jede tiefliegendste, verborgenste      
  Feinheit in dem Denk= und Empfindungsgeschäfte unseres      
  Geistes zu entschleiern scheint, von so vielen andern Händen nur gebraucht      
  wird, um dürre Strohhalme zu zergliedern, und      
  Sonnen=stäubchen zu zertheilen.      
           
  Mit Unwillen hört er aus dem Munde der Iugendführer auf      
  höhern und niedern Schulen, daß über den, nur für auserlesene und      
  mannigfaltig=geübte Denker berechneten Formal=Kenntnissen, gründliches      
  Studium reeller Wissenschaften, von den Iünglingen gefährlich      
  vernachlässiget, und alte Wahrheit (wenn gleich mit der neuesten      
  Ansicht derselben keinesweges im Widerspruch) verschmäht, verhöhnet      
  wird.      
           
  Nicht ohne kränkendes Gefühl für den Ruhm teutscher Nation,      
  als einer der glücklichsten Selbstdenkerin unter ihren europäischen      
  Schwestern, sieht er, durch das tiefsinnigste und jede Schwinge der      
  Denkkraft mächtig=anregendste aller philosophischen Systeme, jenen      
  niedrigen Geist scholastischer Polemik und sclavischen Nachbetens      
  von neuem sein Haupt erheben.      
           
  Mit einer, an Ekel gränzenden, Empfindung sieht er Teutoniens      
  schöne Sprache - in Abhandlungen und Werken, die der allgemeinen      
  Belehrung und Veredelung gewidmet seyn sollen, verzerrt, entstellt      
  durch Transscendentalitäten und Terminologien, deren sich nur der      
  große Stifter des kritischen Systems, als unentbehrlicher Werkzeuge      
  philosophischer Analyse, zu bedienen berechtiget war; er, der seine Leser,      
           
  für den kleineren Verlust der zierlichen Hülle des Ausdrucks, durch den      
  Gehalt des in der Hülle verborgnen Saamens so reichlich zu entschädigen      
  weiß, eines Saamens, fruchtschwanger von Ideen zu neuen      
  Anpflanzungen im Reiche der Wahrheit.      
           
  Man glaubt, die Ideen des ersten der Denker erschöpft zu haben,      
  wenn man seine Formeln ausspricht; man glaubt, tiefsinnig zu schreiben,      
  weil man sich dunkel ausdrückt; man glaubt sich Denker, weil man      
  das Gedachte eines Andern classificirt; man glaubt sich Kant, weil      
  man Kanti=aner ist.      
           
  Und worin liegt es, daß wir bei allen, zum Theil sehr verdienstlichen      
  Commentaren über Ihr Lehrgebäude, seit beinahe funfzehn      
  Iahren, noch immer gleichsam nur in den Vorhallen verweilen?      
           
  Worin ist die Ursache zu suchen, daß eine große Masse wichtiger      
  und höchst=fruchtbarer Ideen in den unsterblichen Werken Ihres Geistes      
  unbeleuchtet, ungeprüft, und, am allermeisten, ungebraucht und ungenuzt      
  daliegt? Die Ursache, daß einiger Ihrer Werke, daß z. B. der      
  metaphysischen Anfangsgründe *) der Naturlehre, von den erklärtesten      
  Anhängern Ihres Systems kaum erwähnet wird? Die Ursache, da      
  man selbst über gewisse Grundbegriffe der kritischen Philosophie, nicht      
  bloß unter den Philosophen überhaupt, sondern, wie es scheint, unter      
  den Stammhaltern derselben sogar, nicht einig ist? Worin liegt es      
  endlich, daß der Verfasser der Vernunftkritik sich noch immer mehr      
  über=baut, als auf seinen Fundamenten weiter fort=gebaut sieht?      
  Und das leztere war doch, wenn mich nicht alles täuscht, was ich je      
  aus Ihrem Munde vernahm, Ihr einziger Wunsch!      
           
  Wenn es schwer, wenn es schwerer als bei irgend einem der      
  jemaligen philosophischen Systeme, ist, den Tiefsinn Ihrer Untersuchungen      
  zu erreichen: diesen Tiefsinn, hinter welchem Aristotelische Analytik,      
  Leibnitzischer Feinblick, und Humische Dialektik, unabsehbar weit zurückebleiben;      
  so wünschte ich, daß irgend einer der vielen treflichen      
  Geister, die Ihren Werken ihren Fleiß und ihre Talente widmen, diejenigen      
  Stellen derselben, wo Sie, wie der Dichter in den Momenten      
  schwungvoller Begeisterung, gleichsam von dem hellesten Glanz philosophisch=deutlicher      
  *) Herr M. Beck, ein eben so gründlicher, und Kenntnißvoller, als bescheidener      
  Denker, hat, nur vor einiger Zeit, und nicht ohne Glück, angefangen, dies äußerst      
  wichtige Werk zu erläutern.      
           
  Anschauung umleuchtet, schreiben, - ausheben, zusammenordnen,      
  hier, dort eine einzelne Bemerkung einschieben, und      
  so - der Welt ein Werk liefern möchten, betitelt: Kant, sein eigener      
  Commentator; ohngefähr so, wie man ein "Leben Friedrichs II." mit      
  den eigenen Worten des großen Monarchen hat.      
           
  Denn wenn gleich Sie selbst, verehrungswürdiger Lehrer, sich die      
  Gabe der Verdeutlichung in einem Ihrer Werke abzusprechen scheinen:      
  so glaube ich doch, selbst durch das neuere Studium derselben, mich      
  überzeugt zu haben, daß es fast keinen einzigen, noch so schwierigen      
  Begriff Ihres Systems in allen seinen Fugen giebt, den Sie nicht,      
  in irgend einer Stelle, mit aller möglichen Deutlichkeit dargestellt      
  hätten: so daß mir kein Commentar, mit allen Umschreibungen, mit      
  aller Ründung des Ausdrucks, an die Evidenz Ihrer eigenen Darstellung      
  hinanzureichen geschienen.      
           
  Dürfte ich's mir aber erlauben, aus der Ferne, in welcher die      
  Ehrfurcht mich, als einen der unbedeutendsten Ihrer Lehrlinge, billig      
  hält, Ihnen gleichsam näher zu treten: so würde ich es wagen, Ihnen      
  einen Wunsch vorzutragen, von welchem ich weiß, daß ein großer      
  Theil gründlicher Denker und Verehrer Ihres Systems ihn in seinem      
  Herzen hegt: und dies ist kein andrer, als der: daß der große Stifter      
  des kritischen Systems, (der bis dahin fast bei allem Geschrei seiner      
  Gegner, - so wie noch vielmehr bei gewissen übertriebenen Lobpreisungen      
  jugendlicher Schwärmerei, sehr gleichgültig - ungestört in      
  der reinen unbewölkten Region vorurtheilsfreier und leidenschaftloser      
  Untersuchung zu verweilen, und immer neue Wahrheiten zu entdecken      
  schien, indem man den Werth der alten fälschlich bezweifelte, oder      
  auch thöricht überschätzte) daß er es einst würdigen möchte, in einem      
  litterarischen Vermächtniß die Welt zu belehren über den Grad      
  der Anspruchsfähigkeit einiger der allerneuesten Erweiterungen oder      
  Begründungen seines Systems: wofern er anders nicht, vielleicht nur      
  desto weiser, beschlossen hat, auch hierüber der Zeit, dieser Mutter der      
  Wahrheit, allein nur die Entscheidung zu überlassen.      
           
  Das Werk, welches ich hier, mit Ihrem Namen an der Stirne,      
  über das ungeheure Ganze Ihres Systems dem philosophischen Publikum      
  Teutschlands vorzulegen wage, ist die Frucht der, nach mehr als      
  zwölfjährigem Schlummer wieder=erwachten Liebe zur Spekulazion,      
  einer Geistesbeschäftigung, die ich von jeher als wesentliche Handleitung      
           
  zum Tempel der Wissenschaft, nie aber als Ziel und Zweck aller Weisheit      
  betrachtete, und immer betrachten werde.      
           
  Ich darf nicht bescheiden seyn; ich darf nur von meinem mir selbst      
  so fühlbaren Unvermögen so lebendig überzeugt seyn, als ich es wirklich      
  bin, - um, wenn ich mich in die glänzende Reihe der Philosophen      
  Teutschlands einzudrängen scheine, jenes      
  Non tali auxilio, nec defensoribus istis      
  Tempus eget . Virgil.      
  auf mich anzuwenden.      
           
  Aber mir war es wichtig, mußte es wichtig seyn, Ihr Lehrgebäude,      
  dessen einige wesentliche Theile, z. B. der ästhetische und teleologische,      
  erst während meiner Abwesenheit aus Preußen, von Ihnen ausgearbeitet      
  und vollendet erschienen, in seinem ganzen Umfange zu überschauen,      
  mich von der durchgängigen Haltung seiner Fugen, von der Festigkeit      
  seiner Gründe zu überzeugen, und mich des großen Baumeisters zu      
  freuen.      
           
  So wichtig indessen mir dies seyn mußte: so würde ich doch,      
  durch die eigenthümliche Wendung meines Geistes in sehr verschiedenartige      
  Felder der Wissenschaft hingeleitet, von dem, nur sehr wenigen      
  zugänglichen, Bezirk transscendentaler Spekulazion mich auf immer      
  entfernt gehalten, würde meine unbedeutenden Untersuchungen dieser      
  Art wenigstens nie dem Publikum mitgetheilt haben, wie ichs auch      
  bis dahin gethan: wofern nicht die wiederholt=aufgegebene Frage der      
  Königlichen Akademie über die Fortschritte der Metaphysik, mir, bei      
  sehr zufälliger Muße von einigen Monaten, Aufmunterung gewesen      
  wäre, meine etwanigen Ideen über das Ganze Ihres Systems einer      
  Gesellschaft von Philosophen vorzulegen, die - wenigstens frei von      
  dem herrschenden Partheigeist unserer philosophischen Gerichtsstühle,      
  ihre Urtheile aussprechen.      
           
  Denn die akademische Frage an sich lag weniger in meinem      
  Plan, wie ich sie denn auch, in dem Verfolg des Werkes, diesem Plan      
  nur angebogen; um mich denjenigen Untersuchungen, die mir eigentliches      
  Ziel waren, desto ungehinderter zu überlassen.      
           
  Schon die Ausdehnung des Werks auf Moral, natürliche Religion,      
  und Aesthetik, beweist die Verschiedenheit meines Ziels von demjenigen,      
  welches die akademischen Preisbewerber im Auge haben mußten.      
           
  Demohngeachtet kann es mir nicht anders als aufmunternd seyn,      
           
  daß die Akademie unter den mehr als dreißig Abhandlungen,      
  welche ihr über ihre Frage eingereicht wurden, - (ein Reichthum,      
  der in einer so Philosophen=reichen Epoche als die gegenwärtige in      
  Teutschland, niemanden befremden kann) meiner Geringfügigkeit einige      
  Aufmerksamkeit bewiesen, und derselben das Accesit zuerkannt.      
           
  Täuscht mich nicht alles: so kann ich von diesem Werk wenigstens      
  so viel sagen:      
           
  Daß der Ideengang desselben von allen, über Ihr System erschienenen      
  Kommentaren, möge das System durch dieselbe verdunkelt      
  oder erhellet, neu=begründet! oder sogar erweitert!! worden seyn,      
  schlechterdings unabhängig ist:      
           
  Daß ich, da man bei dem ungeheuern Umfange, und der - fast      
  möchte ich sagen - ins unendlich feine gehenden - Zusammengesetztheit      
  Ihres Lehrgebäudes, über den Theilen sehr leicht das Ganze aus      
  dem Auge verlieren kann, sorgfältigst immer das Ganze, nach seinen      
  Gründen und Resultaten, im Auge zu behalten gesucht:      
           
  Daß ich, da ich einen Kant groß genug glaube, um auch andre      
  Philosophen ihm zur Seite anzuerkennen, bei der Zusammenstellung      
  der verschiedenen Systeme, mit jener Gerechtigkeitsliebe verfahren zu      
  haben glaube, die jeder unbefangene Prüfer der Wahrheit schuldig ist:      
  Daß ich die bewundernswürdige Fruchtbarkeit einiger Ihrer großen      
  Ideen zur Erweiterung des Gebiets auch anderer, als transscendentaler,      
  Wissenschaften, gezeigt: *)      
           
  Daß ich endlich, unbefangen in meinen Untersuchungen, und von      
  keiner Parthei, selbst nicht von der Ihrigen, als in so fern sie mir      
  die Parthei der Wahrheit zu seyn scheint, absichtlich keine wichtige      
  Stelle Ihres Systems unbeleuchtet, keinen gründlichen Einwurf unberührt      
  gelassen.      
           
  Denn nach meiner eigenthümlichen Absicht sollte dies Werk, so      
  viel der Raum, und noch mehr meine Kräfte, nur immer gestatten,      
  Darstellung, Erläuterung und Prüfung der Gründe und des      
  Werths Ihres ganzen Lehrgebäudes seyn.      
           
           
  Der Abschnitt von der Aesthetik, wo ich, als über Lieblingsgegenstände      
  meines Geistes, so viel zu sagen hatte, hat wegen der      
  Anschwellung des Werkes, sehr ins Kurze gezogen werden müssen.      
           
  Ich schmeichele mir, verehrungswürdiger Lehrer, in keinem wesentlichen      
  Theil Ihres ganzen Lehrsystems mit Ihnen verschiedener Meinung      
  zu seyn.      
           
  Wohl aber dürfte dies in einzelnen, minderwesentlichen Theilen      
  desselben, hier, dort, der Fall seyn      
           
  Weit entfernt bin ich, meinen Bemerkungen einen höhern Werth,      
  oder eine unbezweifelbare Richtigkeit deswegen beizulegen: weil ich des      
  Glücks genoß, Ihre Lehren, sechs Iahre hindurch, aus Ihrem eigenen      
  Munde zu hören.      
           
  Kann man doch der leibhafte Sohn eines großen Dichters seyn:      
  und dabey noch - sehr schlechte Verse machen!      
           
  Werke des Geistes sind, wie die Gaben des Himmels, Gemeingüter:      
  wer den würdigsten Gebrauch davon macht, dem nutzen sie am meisten.      
  Dem unbefangensten Prüfer, und der glücklichsten Prüfungsgabe      
  allein, öffnen sich die Thore des Tempels der Wahrheit.      
           
  Da ich meine Untersuchungen mit der absolutesten Independenz      
  von allen philosophischen Partheien, von Anti=Kantianern, Hypo=Kantianern,      
  und Para=Kantianern niederschrieb; und in dem, zum Erstaunen      
  zahlreich besetzten, transscendental=philosophischen Konvent      
  Teutschlands keine Stimme habe, noch jemals zu haben wünsche; so      
  kann ich mir wegen dieses Werkes, als einer Art von "Petition of      
  Rights" zum voraus gewisse Wegwerfung ahnden: indem die neuesten      
  Rechte der Philosophen mit den Rechten des Menschen fast in      
  keinem geringern Widerspruch zu stehen scheinen; als, nach einem alten      
  Sprichwort, das juristische Recht mit dem rechten Recht.      
           
  Sollte indessen die Unordnung, welche noch fortdauernd die Ordnung      
  des Tages ist, einst aufhören: sollte der große, in seiner eigenen      
  Sache bis dahin immer so erhaben=sprachlose, Vorsitzer *) des      
  Convents am Pregel=strom, einst durch ein paar Worte den Tag der      
           
  Ordnung zu schaffen belieben: dann, und dann allein vielleicht, dürfen      
  die Denker Theutschlands hoffen, ruhige, parteilose, unbefangene Prüfungen      
  ihren Thron wieder=einnehmen zu sehen, eine Prüfung, wie sie      
  allein der Wahrheit würdig ist.      
           
  Aber fern, fern sei alle Autorität aus dem Reiche der Vernunft!      
  fern - selbst die Autorität eines Kant!      
           
  Die Wahrheit ist ein Saat=korn, welches die Zeit allein pflegt      
  und zur Reife bringt:      
  Opinionum commenta delet dies: naturae judicia illustrat .      
  Cicero.      
           
  Glücklich der Denker, dessen commenta zugleich naturae judicia      
  sind!      
           
  Ein Wunsch an die Herrn Philosophen sei mir noch erlaubt:      
  nämlich der: zu prüfen, ob in diesem Werk eine gewisse Masse von      
  Denkkraft sichtbar ist; selbst da, wo ich, entweder blos nach ihrer      
  Meinung, oder auch wirklich, von der Wahrheit abzuirren scheine.      
           
  Ich wenigstens habe nur zu oft in vielen selbstgedachten Irrthümern      
  mehr Denkkraft gefunden, als in nachgebeteten Wahrheiten:      
  und ich gestehe daher auch aufrichtig, daß ich in gewissen,      
  selbst auf Mißverstand gegründeten, Einwürfen gegen das kritische      
  System mehr Aufwand von Scharfsinn entdeckt zu haben glaube, als      
  in gewissen Vertheidigungen desselben.      
           
  Aber Ein Wort des Tadels aus Ihrem Munde, innigst=geliebter      
  Lehrer, wird mich mehr demüthigen, als zehn herabwürdigende Recensionen;      
  so wie Ein Wort der Zufriedenheit aus demselben Munde      
  mich mehr ehren müßte, als jede Lobpreisung anderer.      
           
  Der Genius Teutschlands lasse den ersten Tiefdenker des Iahrhunderts      
  noch lange unter uns verweilen; und ihn die erstaunenswürdigen      
  Kräfte seines Geistes so ungeschwächt verherrlichen, als wir      
  sie ohnlängst nur noch in dem Werk ,,zum ewigen Frieden", und in      
  der Abhandlung "über das Organ der Seele" bewundert haben.      
           
  Noch einmal nähere ich mich, voll Ehrfurcht und Dankgefühl,      
  meinem und meines teutschen Vaterlandes großen Lehrer; und zeichne      
  mich (o daß ich dieses Nahmens immer würdig sein möchte!)      
           
  Berlin den 20. April        
  1796. Ihren      
    immer=verpflichteten Schüler,      
    D. Ienisch.      
           
           
           
           
    *) Herr M. Beck, ein eben so gründlicher, und Kenntnißvoller, als bescheidener Denker, hat, nur vor einiger Zeit, und nicht ohne Glück, angefangen, dies äußerst wichtige Werk zu erläutern.      
           
    *) Eine dieser Ideen, nemlich die Idee eines philosophisch=kritischen Wörterbuchs der Sprache, habe ich mir selbst zu bearbeiten vorgesetzt: und die Einleitung zu einem solchen Werk, nebst sechs oder acht Artikeln eines solchen Wörterbuchs, werde ich, da sie schon ausgearbeitet ist, mit kommender Michaelis=Messe den philosophischen Sprachforschern Teutschlands zur Prüfung vorlegen.      
           
    *) Wider seinen eigenen Willen, (das dürfte ich fast zu versichern wagen können) möchte der Stifter der kritischen Philosophie zu dieser Stelle wohl gewählt seyn! Denn der Königsberger=Newton wollte, wie der brittische, nur der Wahrheit eine Parthei machen.      
           
     

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