Kant: Briefwechsel, Brief 692, An Iohann Plücker.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Iohann Plücker.      
           
  Königsberg den 26 Januar. 1796      
           
  Fahren Sie fort, wackerer Mann, in Beherzigung der ächten      
  Grundsätze desjenigen Lebenswandels, der Ihnen nicht allein hier den      
  Frieden der Seele sicheren, sondern Sie auch für die Zukunft aller Bekümmernis      
  überheben wird. - Daß ich gleichsam nur die Hebamme      
  Ihrer Gedanken war und Alles, wie Sie sagen, schon längst, obwohl      
  noch nicht geordnet, in Ihnen lag, das ist eben die rechte und einzige      
  Art zur gründlichen und hellen Erkenntnis zu gelangen. Denn nur      
  das, was wir selbst machen können, verstehen wir aus dem Grunde;      
  was wir von Anderen lernen sollen, davon, wenn es geistige Dinge      
  sind, können wir nie gewiß seyn, ob wir es auch recht verstehen, und,      
  die sich zu Auslegern aufwerfen, eben so wenig.      
           
  Die Stelle, aus Ihrem vor wenig Iahren an einen Ihrer Freunde      
  abgelassenen Briefe hat meinen vollkommenen Beyfall und "enthält das      
  Gesetz und die Propheten", - Auch hat mir das Experiment mit dem      
  Würmchen und dem fleißigsten Gemälde von demselben, unter dem      
  Mikroscop verglichen, als lebendig vorgestellter Abstand des Menschen      
  (nach dem was er hier ist) von dem Ideal der Menschheit (was er      
  seyn und werden soll) und seiner Bestimmung sich diesem beständig      
  zu nähern, durch seine Neuheit und Tauglichkeit solche Beyspiele in      
  der Erziehung der Iugend mehrmalen zu benutzen, nicht wenig vergnügt      
  Die daraus gezogene Analogie zwischen dem physischen und      
  moralischen Menschen (in seiner ganzen Reinigkeit) ist sinnreich und,      
  vornemlich zu jenem Zwecke, überaus wohl ausgedacht.      
           
  Mit einem Wort, Ihr Brief, lieber Freund, hat mir eine angenehme      
  Stunde gemacht, von meinen gringen Bestrebungen solche Wirkungen      
  hin und wieder warzunehmen; welche tröstende Empfindung dennoch      
  auch von Zeit zu Zeit durch die Bemühungen derer trübe gemacht      
  wird, die die einfachste Sache von der Welt geflissentlich zur schwierigsten      
  machen: indem sie, wie Ärtzte in Recepten, des Guten nicht zu viel      
  thun zu können wähnen und die moralisch=Kranke mit Glaubensvorschriften      
  überfüllen, bis ihnen darüber der Geist (das wahre Prinzip      
  der guten Denkungsart) ausgeht.      
           
  Einem Manne, wie Sie, der es wohl verdient, daß man ihn bey      
  seiner Erkundigung nach der Zuverlässigkeit Anderer in bürgerlichen      
           
  Geschäften nicht unberathen lasse, habe ich bey meiner eigenen Unkunde,      
  einem anderen wichtigen und wohldenkenden Mann, Hrn. Commercienrath      
  Toussaint, substituirt, der sein Urtheil über den Kaufmann quaest:      
  an Sie abgeben wird und durch den Sie auch, wenn es Veranlassung      
  gäbe an mich zu schreiben, mir Ihren Brief überschicken würden.      
           
  Übrigens wünsche ich: daß, so wie Sie sich in Geistesangelegenheit      
  auf der Bahn der Rechtschaffenheit, so auch in bürgerlichen und      
  häuslichen auf der des Glücks und der Ehre jederzeit befinden mögen,      
  und bin mit Hochachtung Ihr      
           
  ergebenster Freund und Diener      
  I Kant.      
           
           
           
     

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