Kant: Briefwechsel, Brief 589, Von Georg Wilhelm Bartoldy. |
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Von Georg Wilhelm Bartoldy. | |||||||
Berlin den 18ten September 1793. | |||||||
Höchstzuverehrender Herr Professor! | |||||||
Mein Freund, Herr Salomo Maimon, hielt es für seine Pflicht, | |||||||
Ihnen ein Exemplar von der mit seinen Anmerkungen herausgekommenen, | |||||||
von mir besorgten, Übersetzung des Neuen Organon zuzuschicken. | |||||||
Da er aber von der einen Seite glaubte, daß er selbst in einem Briefe | |||||||
an Sie sich nicht des Polemisirens würde gänzlich enthalten können, | |||||||
und von der andern zu viel Achtung für Ihre Geschäfte und für Ihr | |||||||
hohes Alter hat, um Sie mit Einwürfen behelligen zu wollen, die er | |||||||
vielleicht bei weiterem Forschen selbst für nichtig erklären wird; so hat | |||||||
er mir den Auftrag zur Übersendung dieser Schrift und zur Versicherung | |||||||
seiner fortdauernden innigsten Hochachtung gegen Sie gegeben. Für | |||||||
mich war derselbe desto angenehmer, da er mir die längst gewünschte | |||||||
Gelegenheit darbietet, Ihnen den herzlichsten Dank für die Verdienste | |||||||
zu bezeugen, welche Sie sich auch um meine moralische und intellectuelle | |||||||
Bildung erworben haben. Arbeiten des Geistes haben keinen süßeren | |||||||
Lohn, als die Überzeugung, selbst errungene Grundsätze in fremden | |||||||
Geistern keimen zu sehn, dadurch einen neuen Vermuthungsgrund für | |||||||
ihre Allgemeingültigkeit und für ihre ewige Wirksamkeit unter unserm | |||||||
Geschlechte zu erhalten, und sich auf diese Weise der edelsten Art von | |||||||
Unsterblichkeit zu versichern. Oft habe ich mich seit einigen Iahren | |||||||
darüber gefreuet, daß Ihnen dieser Lohn in immer höherem Maße zu | |||||||
Theil wird, und ich wünsche von ganzer Seele, daß Sie noch viele | |||||||
Iahre unter uns zubringen möchten, um immer mehrere von den segenvollen | |||||||
Früchten der Reife nahen zu sehn, die ich von der allgemeinen | |||||||
Annahme Ihres Systems für die Menschheit erwarte. Diese Erwartung | |||||||
ist bei mir so unerschütterlich, daß ich, seitdem ich mit dem Geiste | |||||||
desselben vertraut zu seyn glaube, es mir zu dem höchsten Zweck meines | |||||||
Lebens gemacht habe, alle meine Kräfte zur allgemeineren Verbreitung | |||||||
eines Lehrgebäudes zu verwenden, in welchen ich endlich die Beruhigung | |||||||
gefunden habe, die ich bei den übrigen so ganz vergebens suchte, da | |||||||
ich, vor dem Lesen der Kritik der reinen Vernunft, im Begriffe war, | |||||||
neue Gründe für den dogmatischen Scepticism aufzusuchen, den ich noch | |||||||
für das haltbarste der bisherigen Systeme hielt, und den Streit | |||||||
zwischen der speculativen und praktischen Vernunft für einen gordischen | |||||||
Knoten zu erklären, der wohl zerhauen, aber nicht gelöset werden | |||||||
könnte. Vielleicht hat mich aber mein Eifer für das System im | |||||||
Ganzen in die Gefahr gesetzt, hie und da in dem Einzelnen etwas zu | |||||||
übersehen oder mißzuverstehen, uud so wider Willen Irrthum verbreiten | |||||||
zu helfen. Von dieser Besorgniß bin ich nicht gänzlich frei, ob ich | |||||||
mir gleich die Gerechtigkeit wiederfahren lassen muß, daß ich nichts | |||||||
niederschrieb, was ich nicht nach meinem Vermögen durchdacht, und | |||||||
wovon ich mich nicht völlig überzeugt gefunden hätte. Und hierin liegt | |||||||
die Entschuldigung der Freiheit, die ich mir nehme, Maimons Auftrag | |||||||
zu überschreiten, indem ich Ihnen, außer Bacon's Organon, zugleich | |||||||
sechs Stücke von dem Iournal für Gemeingeist überschicke, in welchem | |||||||
ich den Versuch gemacht habe, einige Sätze der praktischen Philosophie | |||||||
zu popularisiren. Sollten Sie einmahl Zeit und Lust haben, meine | |||||||
Abhandlungen über Wesen und Ausdehnung des Gemeingeistes, und | |||||||
über die Märtyrer, so wie meine Fragmente von Alminar und Cesario | |||||||
durchzulesen; so würden diese, zusammengenommen mit meiner Vorrede | |||||||
zum Baco, Ihnen leicht zeigen können, in wie fern ich mit dem Geiste | |||||||
Ihres Systems vertraut bin, oder wo ich etwa denselben verfehlt haben | |||||||
könnte, und Sie würden mich unendlich verbinden, wenn Sie mich | |||||||
durch einen Wink zurechtweisen wollten, vorausgesetzt, daß Sie nicht | |||||||
weitläuftige Erklärungen nöthig finden, die ich nicht mit gutem Gewissen | |||||||
von Ihnen verlangen kann, da Sie die übrige Zeit Ihres Lebens | |||||||
noch zu vielen, nicht für ein Individuum, sondern für das ganze | |||||||
menschliche Geschlecht wichtigen, Arbeiten benutzen können. Sie werden | |||||||
aus der Vorliebe für die praktische Philosophie, die in meinen Arbeiten | |||||||
sichtbar ist, weil ich die Bearbeitung und Verbreitung derselben für ein | |||||||
höchst dringendes Bedürfnis unsers Zeitalters halte, leicht die Sehnsucht | |||||||
abnehmen können, womit ich Ihre Metaphysik der Sitten erwarte, | |||||||
deren Vollendung, wie mich Herr Fichte bei seiner Durchreise versicherte, | |||||||
nicht mehr fern seyn soll. | |||||||
Verzeihen Sie der ungemeinen Achtung für Sie, wovon ich seit | |||||||
den letzten sechs Iahren, daß ich mich mit der kritischen Philosophie | |||||||
beschäftige, stets durchdrungen gewesen bin, die Miene von alter Bekanntschaft, | |||||||
und fast fürchte ich von Zudringlichkeit, die ich in meinem | |||||||
Briefe finde, da ich ihn jetzt überlese! Halten Sie es eben dieser Empfindung | |||||||
zu Gute, daß ich einem Manne, dessen überwiegenden Werth | |||||||
ich oft im Stillen bewundere, keine wortreichen Complimente mache, | |||||||
und seyn Sie überzeugt, daß die lange und glückliche Fortdauer Ihrer | |||||||
hiesigen Existenz einer der wärmsten und innigsten Wünsche ist bei | |||||||
Ihrem | |||||||
treuen Verehrer | |||||||
George Wilhelm Bartoldy, wohnhaft in | |||||||
der Kurstrasse im Durieuxschen Hause. | |||||||
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