Kant: Briefwechsel, Brief 558, Von Carl Leonhard Reinhold. |
|||||||
|
|
|
|
||||
Von Carl Leonhard Reinhold. | |||||||
21. Ian. 1793. | |||||||
Mein hochstverehrungswürdiger Lehrer! | |||||||
Ihre überaus gütige Zuschrift durch welche Sie mir den Empfang | |||||||
des zweyten Theiles meiner Briefe über Ihre Philosophie berichten, | |||||||
und das Exemplar der zweyten Ausgabe Ihrer Kritik der Urtheilskraft, | |||||||
das vermuthlich in Leipzig eine Zeitlang aufgehalten wurde, und mich | |||||||
daher bereits in Gesellschaft und im Genusse eines früher eingetroffenen | |||||||
gefunden hat, sind mir vor drey Wochen fast zugleich zu Handen gekommen. | |||||||
Beyde sind mir unschätzbare Beweise Ihrer fortdaurenden | |||||||
Gewogenheit, und nur die Unpäßlichkeit, die mich diesen Winter um | |||||||
so manche gute Stunde gebracht und zumal diesen Monath über meine | |||||||
Gemüthskräfte unthätig gemacht hat, hat mich bis itzt abgehalten Ihnen | |||||||
meinen wärmsten Dank zu sagen. | |||||||
Dieß ist nun das viertemal daß ich die Kritik der Urtheilsk. lese | |||||||
und studiere. Iedesmals überrascht sich mich im eigentlichsten Verstande | |||||||
mit einer solchen Menge neuer Aufschlüsse, daß ich zumal bey der | |||||||
Menge meiner Arbeiten mich immer in Verlegenheit befinde wie ich | |||||||
die reiche Ausbeute ohne das meiste davon wieder einzubüssen unterbringe. | |||||||
Noch nie hat wohl ein Mensch einem andern so viel, so | |||||||
unermeßlich viel zu danken gehabt als ich Ihnen. | |||||||
Da mein Geist täglich mit dem Ihrigen beschäftiget ist, da mir | |||||||
kein Mensch selbst von denen die um mich herum leben so sehr gegenwärtig | |||||||
ist, als Sie, so wird mir die Pflicht Ihre der ganzen Menschheit | |||||||
heilige Zeit durch ehrerbietiges Stillschweigen zu schonen, um so | |||||||
leichter; und da meine Lebensjahre schwerlich zureichen werden, um | |||||||
mir die Schätze der Belehrung, die in Ihren Schriften für mich enthalten | |||||||
sind, zu Nutzen zu machen; so kann ich den Versuchungen die | |||||||
mich sehr oft anwandeln mir für meine schriftstellerischen Versuche neue | |||||||
und besondere Belehrungen auszubitten, ohne sonderliche Selbstverläugnung | |||||||
widerstehen. Ie mehr sich die Arbeiten Ihrer Schüler vervielfältigen, | |||||||
desto weniger können Sie Musse haben dieselben zu lesen | |||||||
geschweige denn verbessernde Hand daran zu legen. Ich wünsche es | |||||||
nicht nur nicht daß Sie die Meinigen lesen; sondern ich glaube so gar | |||||||
dadurch selbst einzubüssen, wenn Sie von der Zeit die Sie ihren doktrinalen | |||||||
Werken gewidmet haben, auch nur eine Stunde auf die Lektüre | |||||||
von denjenigen Ausarbeitungen verwenden, durch welche ich die ewigen | |||||||
Wahrheiten die sie mich gelehrt haben gegen Misverständnisse zu sichern | |||||||
suche. | |||||||
Wenn ich aber dießfalls irgend eine Ausnahme mir zu wünschen | |||||||
erlaubte: so würde dieselbe die Briefe über Ihre Philosophie, | |||||||
treffen, die mir durch Ihren Beyfall (: den diejenigen des Ersten | |||||||
Bandes welche der Merkur vorläufig bekannt machte zu erhalten das | |||||||
Glück hatten :) besonders lieb geworden sind. Sollten Sie unbeschäftigte | |||||||
Zeittrümmerchen über kurz oder lang übrig haben, und dieselben dem | |||||||
Zweyten Theile der gedachten Briefe zuwenden können - Auch dann | |||||||
würde ich Sie bitten keineswegs das ganze Buch, sondern aus den | |||||||
zwölf Briefen nur fünf nämlich den sechsten, siebenten, Achten, | |||||||
Eilften und zwölften zu lesen. Der sechste versuchte es die Begriffe | |||||||
von Sittlichkeit Pflicht Recht und Naturrecht, der siebente von Begehren | |||||||
und Wollen, der Achte von der Freyheit zu entwickeln; der | |||||||
Eilfte enthält eine Skizze zur Geschichte der Moralphilosophie; und | |||||||
der Zwölfte enthält meine Erwartungen von dem Erfolg Ihrer Bemühungen. | |||||||
Wenn ich nicht unrecht berichtet bin, so sind sie eben mit | |||||||
der Metaphysik der Sitten und folglich mit Ideen beschäftiget, bey | |||||||
denen ich nicht fürchten darf, durch den Inhalt jener Briefe Veranlassung | |||||||
zu einer Unterbrechung Ihres Geschäftes zu werden - und | |||||||
Sie haben dasjenige, was Sie etwa mir zur Berichtigung meiner | |||||||
Versuche zu sagen für gut finden dürften, eben bey der Hand. | |||||||
Ihr Urtheil über den Inhalt besonders des siebenten und achten | |||||||
Briefes würde mir, dasselbe möchte nun für meine Theorie von Willen | |||||||
und Freyheit günstig oder ungünstig ausfallen, zum Behuf meines | |||||||
Versuches einer Theorie des Begehrungsvermögens, den ich | |||||||
schon seit einigen Iahren in meiner Seele herum trage die größte | |||||||
Wohlthat seyn. Ein paar Winke in ein paar Zeilen hingeworfen, | |||||||
werden mich entweder über das Protonpseudos belehren, und gegen | |||||||
das Unglück auf einem unrichtigen Wege weiter fortzugehen bewahren, | |||||||
oder falls der Weg nicht verfehlt ist Herzstärkung zur Überwindung | |||||||
der grossen Schwierigkeiten seyn, die ich bereits aus Erfahrung kenne, | |||||||
und die mir noch auf demselben bevorstehen. | |||||||
Die kantische Philosophie wird hier sehr eifrig studiert. Ich lese | |||||||
jedes Winterhalbjahr über die Kritik aus der ich einen Auszug diktiere. | |||||||
Im Iahr 1790 hatte ich in diesem Kollegum 95. in I. 1791. 107 | |||||||
und diesen Winter 158 Zuhörer. | |||||||
Wenn Ihnen meine Schriftlichen Besuche nicht ungelegen kämmen, | |||||||
wenn die Mittheilung kleiner Notizen zur Litterargeschichte Ihrer | |||||||
Philosophie Ihnen einiges Vergnügen machte, wie gerne wollte ich | |||||||
auf Erwiederung meiner Briefe Verzicht thun, und mich glücklich | |||||||
schätzen, Ihnen monathlich oder vierteljahrig schreiben zu dürfen. | |||||||
Geben Sie hierüber nur einen Wink | |||||||
Iena den 21 Iener 792. [1793.] | |||||||
Ihrem ewig verpflichteten | |||||||
Verehrer | |||||||
Reinhold | |||||||
Mit lebhafter Sehnsucht sehe ich dem neuen Werke entgegen, das | |||||||
Sie mir unter einem so strengen Incognito ankündigen - und freue | |||||||
mich auf die Überraschung, die ich von seinem Inhalt erwarte. | |||||||
[ abgedruckt in : AA XI, Seite 409 ] [ Brief 557 ] [ Brief 559 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |