Kant: Briefwechsel, Brief 552, An Iohann Benjamin Erhard.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Iohann Benjamin Erhard.      
           
  21. Dec. 1792.      
           
  Innigstgeliebter Freund      
  Daß Sie das Ausbleiben meiner über ein Iahr lang schuldigen      
  Antwort mit einigem Unwillen vermerken verdenke ich Ihnen gar nicht,      
  und doch kan ich es mir nicht als verschuldet anrechnen; weil ich die      
  Ursachen desselben, welche zu entfernen nicht in meinem Vermögen ist,      
  mehr fühlen als beschreiben kann. Selbst Ihre Freundschaft, auf die      
  ich rechne, macht mir den Aufschub von Zeit zu Zeit zuläßiger und      
  verzeihlicher, der aber durch den Beruf, den ich zu haben glaube,      
  meine Arbeiten zu vollenden und also den Faden derselben nicht gern,      
  wenn Disposition dazu da ist, fahren zu lassen, (diese Indisposition      
  aber welche mir das Alter zuzieht, kommt oft) und durch andere unumgängliche      
  Zwischenarbeiten, ja viele Briefe, deren Verfassern ich      
  so viel Nachsicht nicht zutrauen darf, mir fast abgedrungen wird.      
  Warum fügte es das Schicksal nicht einen Mann, den ich unter allen,      
  die unsere Gegend je besuchten, mir am liebsten zum täglichen Umgang      
  wünschte, mir näher zu bringen?      
           
  Die mit Hrn. Klein verhandelte Materien aus dem Criminalrecht      
  betreffend, erlauben Sie mir nur einiges wenige anzumerken; da      
  das Meiste vortreflich und ganz nach meinem Sinn ist; wobey ich      
  voraussetze, daß Sie eine Abschrift der Sätze mit eben denselben      
  Numern, als in Ihrem Briefe, bezeichnet vor sich haben.      
           
  ad. N. 5. Die Theologen sagten schon längst in ihrer Scholastik      
  von der eigentlichen Strafe ( poena vindicatiua ): sie würde zugefügt,      
  nicht ne peccetur , sondern quia peccatum est . Daher definirten sie      
  die Strafe durch malum physicum ob malum morale illatum . Strafen      
  sind in einer Welt, nach moralischen Principien regirt (von Gott),      
  categorisch nothwendig (so fern darinn Übertretungen angetroffen      
  werden). So fern sie aber von Menschen regiert wird ist die Nothwendigkeit      
  derselben nur hypothetisch und jene unmittelbare Verknüpfung      
  der Begriffe von Ubertretung und Strafwürdigkeit dienen den Regenten      
  nur zur Rechtfertigung, nicht zur Vorschrift in ihren Verfügungen,      
  und so kan man mit Ihnen wohl sagen: daß die poena meremoralis      
  (die darum vielleicht vindicatiua genannt worden ist, weil sie die Göttliche      
           
  Gerechtigkeit rettet) ob sie zwar der Absicht nach blos medicinalis      
  für den Verbrecher, aber exemplaris für Andere seyn möchte, doch,      
  was jene Bedingung der Befugnis betrift, ein Symbol der Strafwürdigkeit      
  sey.      
           
  ad. N. 9, 10. Beyde Sätze sind wahr, obgleich in den gewöhnlichen      
  Moralen ganz verkannt. Sie gehören zu dem Titel von den      
  Pflichten gegen sich selbst, welcher in meiner unter Händen habenden      
  Metaphysik der Sitten, besonders, und auf andere Art als wohl sonst      
  geschehen, bearbeitet werden wird.      
           
  ad N. 12. Auch gut gesagt. Man trägt im Naturrecht den      
  bürgerl[ichen] Zustand, als auf ein beliebiges pactum sociale gegründet,      
  vor. Es kan aber bewiesen werden, daß der status naturalis      
  ein Stand der Ungerechtigkeit, mithin es Rechtspflicht ist in den statum      
  ciuilem überzugehen      
           
  Von Hrn. Prof: Reuss aus Wirtzburg, der mich diesen Herbst mit      
  seinem Besuch beehrte, habe Ihre Inauguraldissertation und zugleich      
  die angenehme Nachricht erhalten, daß Sie in eine Ehe die das Glük      
  Ihres Lebens machen wird getreten sind, als wozu ich von Herzen      
  gratulire.      
           
  Mit dem Wunsch von Ihnen dann und wann Nachricht zu bekommen,      
  unter andern wie Fräul: Herbert durch meinen Brief erbauet      
  worden, verbinde ich die Versicherung: daß ich jederzeit mit      
  Hochachtung und Ergebenheit sey      
           
  Koenigsberg Der Ihrige      
  den 21. Dec: I Kant      
  1792        
           
           
           
     

[ abgedruckt in : AA XI, Seite 398 ] [ Brief 551 ] [ Brief 553 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ]