Kant: Briefwechsel, Brief 537, An Iacob Sigismund Bekck. |
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An Iacob Sigismund Bekck. | |||||||
Königsberg d. 16. [17.] Octobr. 1792 | |||||||
Hochgeschätzter Freund | |||||||
Ich habe vorgestern den 15 Oct. Ihr Mscrpt in grau Papier eingepackt, | |||||||
besiegelt und A. M. B. signirt auf die fahrende Post zur retour | |||||||
gegeben, aber, wie ich jetzt sehe, zu eilig; indem ich durch einen Erinnerungsfehler | |||||||
statt des Novembers, vor dessen Ablauf Sie Ihre | |||||||
Handschrift zurück erwarteten, mir das Ende Octobris, als den gesetzten | |||||||
termin, vorstellte und, bey der schnell gefaßten Entschließung den eben | |||||||
nahe bevorstehenden Abgang der Post nicht zu verfehlen, es unterließ, | |||||||
Ihren Brief nochmals darüber nachzusehen, und, da ich im Durchsehen | |||||||
der ersten Bogen nichts Erhebliches anzumerken fand, Ihre | |||||||
Deduction der Categorien und Grundsätze ihrem Schiksal in gutem | |||||||
Vertrauen überließ. | |||||||
Dieser Fehler kan indessen, wenn Sie es nöthig finden, doch dadurch | |||||||
eingebracht werden: daß Sie diejenige Blätter, worauf jene befindlich | |||||||
in der Eile abschreiben lassen, sie mir durch die reitende Post | |||||||
eilig (versteht sich unfrankirt) überschicken und so noch vor Ablauf der | |||||||
Zeit die Antwort von mir zurück erhalten. - Meinem Urtheile nach | |||||||
kommt alles darauf an: daß, da im empirischen Begriffe des Zusammengesetzten | |||||||
die Zusammensetzung nicht vermittelst der bloßen | |||||||
Anschauung und deren Apprehension sondern nur durch die selbstthätige | |||||||
Verbindung des Mannigfaltigen in der Anschauung gegeben | |||||||
und zwar in ein Bewußtseyn überhaupt (das nicht wiederum | |||||||
empirisch ist) vorgestellt werden kan, diese Verbindung und die Function | |||||||
derselben unter Regeln a priori im Gemüthe stehen müssen, welche das | |||||||
reine Denken eines Objects überhaupt (den reinen Verstandesbegrif) | |||||||
ausmachen unter welchem die Apprehension des Mannigfaltigen stehen | |||||||
muß, so fern es eine Anschauung ausmacht, und auch die Bedingung | |||||||
aller möglichen Erfahrungserkentnis vom Zusammengesetzten (oder zu | |||||||
ihm gehörigen) ausmacht, (d. i. darinn eine Synthesis ist) die durch | |||||||
jene Grundsätze ausgesagt wird. Nach dem gemeinen Begriffe kommt | |||||||
die Vorstellung des Zusammengesetzten als solchen mit unter den Vorstellungen | |||||||
des Mannigfaltigen welches apprehendirt wird als gegeben | |||||||
vor und sie gehört sonach nicht, wie es doch seyn muß, gänzlich zur | |||||||
Spontaneität, u.s.w. | |||||||
Was Ihre Einsicht in die Wichtigkeit der physischen Frage: von | |||||||
dem Unterschiede der Dichtigkeit der Materie betrift, den man sich | |||||||
muß denken können, wenn man gleich alle leere Zwischenräume, als | |||||||
Erklärungsgründe derselben, verbannt, so freut sie mich recht sehr; denn | |||||||
die wenigsten scheinen auch nur die Frage selbst einmal recht zu verstehen. | |||||||
Ich würde die Art der Auflösung dieser Aufgabe wohl darinn | |||||||
setzen: daß die Anziehung (die allgemeine, Newtonische,) ursprünglich | |||||||
in aller Materie gleich sey und nur die Abstoßung verschiedener verschieden | |||||||
sey und so den specifischen Unterschied der Dichtigkeit derselben | |||||||
ausmache. Aber das führt doch gewissermaaßen auf einen Cirkel aus | |||||||
dem ich nicht herauskommen kan und darüber ich mich noch selbst besser | |||||||
zu verstehen suchen muß. | |||||||
Ihre Auflösungsart wird Ihnen auch nicht Gnug thun; wenn sie | |||||||
Folgendes in Betrachtung zu ziehen belieben wollen. - Sie sagen nämlich : | |||||||
Die Würkung eines kleinen Korpers der Erde auf die ganze Erde ist | |||||||
unendlich klein, gegen die, welche die Erde durch ihre Anziehung auf | |||||||
ihn ausübt. Es sollte heissen gegen, die welche dieser kleine Körper | |||||||
gegen einen anderen ihm gleichen (oder kleineren) ausübt; denn, | |||||||
so fern er die ganze Erde zieht, wird er durch dieser ihren Wiederstand | |||||||
eine Bewegung (Geschwindigkeit) erhalten, die gerade derjenigen gleich | |||||||
ist, welche die Anziehung der Erde ihm allein ertheilen kan: so, da | |||||||
die Geschwindigkeit desselben doppelt so gros ist, als diejenige, welche | |||||||
eben der Korper erhalten würde, wenn er selbst gar keine Anziehungskraft | |||||||
hätte, die Erde aber durch den Wiederstand dieses Korpers, den | |||||||
sie zieht, ebenso eine doppelt so große Geschwindigkeit, als sie, wenn | |||||||
sie selbst keine Anziehungskraft hätte, von jenem Körper allein würde | |||||||
bekommen haben. - Vielleicht verstehe ich aber auch Ihre Erklärungsart | |||||||
nicht völlig und würde mir darüber nähere Erläuterung recht | |||||||
lieb seyn. | |||||||
Könnten Sie übrigens Ihren Auszug so abkürzen, ohne doch der | |||||||
Vollständigkeit Abbruch zu thun, daß ihr Buch zur Grundlage für | |||||||
Vorlesungen dienen könnte, so würden Sie dem Verleger und hiedurch | |||||||
auch Sich selbst viel Vortheil verschaffen; vornehmlich, da die | |||||||
Crit. d. pract. Vernunft mit dabey ist. Aber ich besorge die transsc: | |||||||
Dialectik wird ziemlich Raum einnehmen. Doch überlasse ich dieses | |||||||
insgesammt Ihrem Gutdünken und bin mit wahrer Freundschaft und | |||||||
Hochachtung | |||||||
Ihr | |||||||
Koenigsberg | ergebenster Diener | ||||||
den 16 Octobr. | I Kant | ||||||
1792 | |||||||
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