Kant: Briefwechsel, Brief 529, Von Friedrich Bouterwek.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Friedrich Bouterwek.      
           
  17. Sept. 1792.      
           
  Wohlgebohrner Herr Professor,      
  Verehrungswürdigster Mann,      
  Ein Opfer der Verehrung, sei es auch noch so klein , ist Bedürfniß      
  für den, der es darbringt, wenn es aus freier Seele dargebracht      
  wird. Dies ist Alles, was ich zu meiner Entschuldigung sagen kan,      
  da ich einem innern Aufruf gehorche, Ew. Wohlgeb. die einliegende      
  Kleinigkeit mit einem Zutrauen zu überschicken, als ob im Ernst auch      
  Ihnen etwas daran gelegen seyn könne. Ich bin der Erste, der es      
  wagt, auf dieser Georg=Augusts=Universität, wo so ein Unternehmen in      
  mehr als einer Rüksicht gewagt heissen kan, Kritik der reinen Vernunft      
  nach Ihrem System öffentlich vorzutragen. Eigner - ich darf      
  es ja hier wohl sagen - Enthusiasmus für dies System u. Unwillen      
  über die Coalitionsversuche derjenigen, mit denen ich übrigens im      
  besten, friedlichsten Vernehmen gern fortleben möchte, weil ich doch      
  mit ihnen lebe, gaben mir den Muth, u. äußere Umstände die Veranlassung,      
  meine Vorlesung (mit Erlaubniß der philosophischen Facultät)      
  wirklich anzukündigen. Der ganze Ton dieser Ankündigung gleicht      
  deswegen, wie das Ohr des Meisters auch ohne meine Erklärung      
  hören wird, dem Ton eines gedämpften Instruments. Das Local      
  wolte dies so. Leichter wurde mir die Bemühung, den freien Schwung      
  der Saiten zu hemmen, weil ich mich selbst nicht befugt halte, mein      
  Votum zu geben in der Versammlung der Wahrheitsprüfer. Von den      
  ersten Zeiten der Selbstthätigkeit meines Geistes an, waren Schönheit      
  u. Wahrheit seine Idole; aber die Schönheit riß ihn mit ihren Zauberkräften      
  so gewaltig fort, daß ihr Dienst sein Geschäft mehrere Iahre      
  hindurch einzig u. ausschließlich war. Als determinirter Allesbezweifler      
  wagte ich mich vor vier Iahren an Ihre Kritik, sträubte mich, lernte      
           
  mich meiner Vernunft erfreuen u. wurde, was ich seitdem geblieben      
  bin u. ewig bleiben werde, Ihr dankbarer Schüler. Wer Ihr System      
  in seiner ganzen majestätischen Einfalt umfaßt hat oder umfaßt zu      
  haben glaubt, der kan unmöglich auf den betrübten Einfall gerathen,      
  es zu zerstückeln, um die Fragmente mit diesem oder jenem andern      
  System zusammenzupfuschen. Solte er auch hier u. da eine abweichende      
  Meinung für sich haben, so wird er diese um so ruhiger für sich behalten,      
  wenn er jedem Andern ein gleiches Recht gönnt. Mag, wer      
  es nicht ändern kann, sein Wohnzimmer im Gebäude der Wahrheit      
  mit Tapeten bekleiden; mag ein Andrer die weißgetünchten Wände      
  vorziehen; genug, daß das Gebäude in seinen Fugen auf einer unerschütterlichen      
  Grundfeste steht. Wer aber Andern den Grundriß erklären      
  will, der ist es der Wahrheit schuldig, seine Grillen bei Seite zu sezen,      
  u. nichts zu lehren als was der ehrwürdige Baumeister lehrt. Dies      
  wird aber demjenigen am besten gelingen, dessen productive Geisteskräfte,      
  so gering sie auch seyn mögen, eine andre Richtung genommen      
  haben, als die metaphysische, u. der sich doch zugleich des Gedankens      
  erfreut, die ganze Vernunftkritik vollkommen verstanden zu haben. So      
  habe ich mir meine Befugniß deducirt, die Kritik der reinen speculativen      
  u. praktischen Vernunft strenge nach Ihren Grundsäzen vorzutragen.      
           
  Die Anordnung des Plans, so wie ich ihn aufgestellt habe, gründet      
  sich auf meine Ueberzeugung von der Geneigtheit des ungeübten Verstandes,      
  in der Erweiterung seiner Begriffe am liebsten diesen Gang      
  zu gehen. Ob die Erfahrung mich künftig anders belehren wird, muß      
  sich im Kurzen zeigen.      
           
  Was ich zum Beschluß gesagt habe, ist nicht so gemeint, daß ich      
  nicht gern auf die Ehre in dieser Rüksicht der dreizehnte unter den      
  kleinen Propheten zu seyn, Verzicht tun möchte. Was aber vorher      
  zur Erläuterung oder, besser gesprochen, zur Andeutung des Begriffs      
  von einem synthetischen Grundsaze a priori dasteht, ist mit Flei      
  κατ' ανθρωπον stümperhaft und halbwahr ausgedrükt. Daß der Begriff      
  einer Figur nicht in dem Begriffe von drei Linien stekt, davon      
  überzeugt man sich im Augenblik. Das aber der Begriff von 9 nicht      
  in 7+2 stekt, leuchtet nicht so geschwind ein. Deswegen erwähnte      
  ich der Arithmetik gar nicht u. nahm das Exempel aus der Geometrie      
  allein. Fast aber gereut es mich denn doch, mich so ausgedrükt      
  zu haben, als wenn nicht die ganze reine Mathematik auf      
           
  synthetischen Grundsäzen a priori beruhte. Aber so geht es, wenn man      
  popularisirt! *)      
           
  Wüßte ich, daß mein Skelett zu einer populären Vernunftkritik      
  den Beifall des Meisters hätte, so führte ich wohl einen Gedanken      
  aus, der sich mir angeschmeichelt hat - in der Formplatonischer      
  Dialogen Ihr System denen in die Hände zu spielen, die zurükbeben      
  vor dem festen Schritte der systematischen Darstellung. Wie es nun      
  auch damit werden mag, so werde ich leben u. sterben mit dem Gefühl      
  der Verehrung, mit dem ich izt bin      
           
    Ew. Wohlgeb.      
  Göttingen, den 17 Sept. ganz gehorsamster Dr.      
  1792. F. Bouterwek,      
    dem Titel nach Rath, dem      
    Wesen nach privatisirender Freibürger      
    der Gelehrtenrepublik.      
           
  *) Da sehe ich eben izt noch, daß mir das Wort Realität,      
  worunter ich die objective (den Erscheinungen nothwendig anpassende)      
  Realität des Raums durchaus nicht verstanden haben will, häßlich      
  gemisdeutet werden könte.      
           
           
           
     

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