Kant: Briefwechsel, Brief 524, Von Friedrich Victor Leberecht Plessing.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Friedrich Victor Leberecht Plessing.      
           
  6. Aug. 1792.      
           
  Wohlgeborner Herr      
  Hochzuehrender Herr Professor.      
  Süß ist mir dieser so lange gewünschte Augenblik, wo ich einer      
  Pflicht Gnüge thun kann, wegen deren Nicht=Erfüllung, die bisher      
  nicht in meiner Gewalt stand, ich von manchem innern Kummer gedrükt      
  worden bin. Ich entschuldige mich hier nicht weiter. Denn      
  bloße Worte, die sich leicht finden laßen, sind noch keine würklichen      
  Gründe. Wenn ich einigen Glauben bei Ihnen habe, so wird die      
  simple Versicherung von meiner Seite: daß es nicht in meiner Gewalt      
  gestanden, diese Pflicht eher zu erfüllen, für Sie hinreichend seyn. Es      
  sind nunmehr 9 Iahre, da Ew. Wohlgeboren 30 rthlr (ich hoffe in der      
  Summe mich nicht zu irren) für mich ausgelegt hatten. Eine so lange      
  Zeit schuldig gebliebene Summe, muß zugleich mit den Zinsen, die sie      
  während dieser 9 Iahre getragen, abbezahlt werden. Dies gebühret      
  sich nach der Ordnung der Dinge, und ist mir daher Pflicht. Ich      
  übersende 8 Friedrichsd'or, die mit dem Agio (das auf jedes Stük,      
  10 bis 11 ggl, nach Sächsischem Münzfuß, beträgt) die Summe ausmachen      
  werden, die ich Ihnen (nehmlich die 30 rthlr, nebst 9jährigen      
  Zinsen, fünf vom hundert) schuldig bin. Ich begleite den Abgang      
           
  dieses Geldes, mit meinem herzlichsten und innigsten Dank, den ich      
  Ihnen, nicht blos für die so lange bewiesene gütige Nachsicht, sondern      
  noch für mehr als dies, für das widme, was Sie mir vor 10 Iahren      
  (in dieser für mich so merkwürdigen und traurigen Periode meines      
  Lebens, deren Andenken mit unauslöschlichen Zügen in mein Innerstes      
  gegraben ist) waren. Nochmahls meinen innigsten Dank Ihnen dafür,      
  edler Mann! meinen innigsten Dank, von dem das Herz eines Mannes      
  erfüllt ist, das seine Verbindlichkeit und Ihr Verdienst ganz fühlt. Noch      
  bleibt mir aber etwas zu erfüllen übrig, das Sie vermuthlich errathen      
  werden. Es betrift nehmlich jenen großmütigen Mann, deßen Nahmen      
  ich noch nicht kenne. Allein noch zu sehr unter dem harten Gesez      
  zwingender äußerer Umstände gehalten - die ich zwar seit 9 Iahren,      
  durch anhaltendes Ankämpfen und Anstrengung aller meiner Kräfte,      
  gegen die vorigen Zeiten gerechnet, um ein großes erträglicher gemacht      
  habe, aber doch noch nicht so zu verbeßern im Stande gewesen bin,      
  (wozu ich noch einige Iahre brauche, und mir daher nur noch so lange      
  das Leben wünsche, um auch diese Pflichten noch erfüllen zu können),      
  um alles in's Reine bringen zu können - ist es mir bis gegenwärtig      
  nicht möglich, mich von dieser mir auf dem Herzen liegenden Verbinlichkeit      
  zu befrein. Allein ich ersuche Ew. Wohlgeb. (auf Lebens und      
  Sterbensfall), mir irgend eine Adreße zu übermachen, wohin oder an      
  wen, so bald ich dazu vermögend bin, ich die bewußte Summe übermachen      
  kann. - Ich habe ein hartes Tagewerk gehabt. Doch fühle      
  ich in dem Bewußtseyn: mit Mühe und Arbeit, im Schweiß meines      
  Angesichts, mich durch gedrungen zu haben, zugleich Beruhigung und      
  Belohnung.      
           
  Izt muß ich Ew Wohlgeboren doch noch einige Nachrichten von mir      
  selbst mittheilen. Was meine individuelle Lage, als Mensch und akademischer      
  Lehrer hier an diesem Ort betrift, so lebe ich, gewiße Rüksichten      
  ausgenommen, zufrieden, mit meinen Kollegen in Ruhe und      
  Einigkeit, so wie mit allen übrigen Menschen. Bei Führung meines      
  Lehramts, suche ich, so viel ich kann, und so viel es der Geist der hiesigen      
  Denkart zu ertragen im Stande ist, Nuzzen zu stiften. Freilig      
  ist in diesen Gegenden, die sich durch so manche Eigenheiten vor andern      
  auszeichnen, Philosophie eine ziemlich fremde Wißenschaft; Herrn Jacobi      
  in Düsseldorf ausgenommen, sonst weiß ich keinen, mit dem ich mich      
  mündlich über dergleichen Gegenstände unterhalten könnte. Wäre meine      
           
  Einnahme etwas ansehnlicher, und herrschte hier zu Lande, wo wegen      
  des starken Handels und der ansehnlichen Geldmaße, die im Umlauf      
  ist, nicht eine große Theurung, so würde - da ich einsam und abgezogen      
  lebe, und mich so viel möglich von äußern Bedürfnißen unabhängig      
  zu machen suche - auch in noch einer andern Rüksicht,      
  meine Lage erträglicher seyn. Man hatte mir vor'm Iahr eine Zulage      
  gegeben, aber mit der Bedingung, die lutherische Dogmatik zu lesen.      
  Überrascht anfänglich, nahm ich diesen Antrag an. Allein aus Gründen,      
  die mir's zur Pflicht machten, habe ich dieses Amt, nebst der Zulage,      
  schon vor einiger Zeit wieder nieder gelegt.      
           
  Meine in einem ungewöhnlichen Grade vormahls lebhafte Einbildungskraft,      
  die in meinen jüngern Iahren die Herrschaft führte, mir,      
  bei der ansehnlichen Rolle die sie spielte, so viele Übel schuf, ist gegenwärtig      
  erkaltet, so daß ich izt die Dinge ziemlich so sehe, wie sie sind.      
  Zurükgekommen von so manchen Prätensionen, könnte ich daher wohl      
  in der Folge negativ glüklicher leben; allein ich fürchte, unter den      
  fortdaurenden Geistes=Anstrengungen (denen ich noch zur Zeit, wegen      
  ökonomischer Verhältniße, keine engern Schranken sezzen darf), die baldige      
  Abstumpfung meines Körpers und Geistes. Möge aber alsdann      
  auch nur das Ende meiner Tage nicht mehr fern seyn! Ein kurzes      
  Lebensziel und baldige Befreiung des Vernunft=Menschen, von der      
  Herrschaft der sinnlichen Natur und aus dem Leibe dieses Todtes, ist      
  in dieser gegenwärtigen Zeit, mehr zu wünschen, als zu fürchten. Mir      
  fällt hiebei eine herrliche an Brutus gerichtete Stelle, aus dem ersten      
  Buch der Tuscul. queest. (am Ende deßelben) ein, die Cicero, während      
  der Stürme, die sein Vaterland zerrütteten, und das Menschengeschlecht      
  in ein länger als tausendjähriges Elend stürzten, schrieb: Magna eloquentia      
  est vtendum, atque ita velut superiore e loco concionandum ,      
  vt homines mortem vel optare incipiant, vel certe timere desistant .      
  Nam si supremus ille dies non exstinctionem, sed commutationem      
  affert loci, quid optabilius? sin autem perimit ac delet omnino, quid      
  melius, quam in mediis vitae laboribus obdormiscere, & ita conniventem      
  somno consopiri sempiterno? - Nos vero, si quid tale acciderit ,      
  vt a Deo denuntiatum videatur, vt exeamus e vita, laeti, &      
  agentes gratias pareamus; emittique nos e custodia & levari vinculis      
  arbitremur, vt aut in aeternam, & plane in nostram domum remigremus,      
  aut omni sensu, molestiaque careamus. Sin autem nihil      
           
  denuntiabitur, eo tamen simus animo, vt diem illum, horribilem      
  aliis, nobis faustum putemus; Portum paratum nobis & perfugium      
  putemus. Quo vtinam velis passis pervehi liceat! sin restantibus ventis      
  rejiciemur, tamen eodem, paulo tardius, referamur necesse est .      
           
  Die Geschichte unserer Tage, zeugt von einem traurigen Verfall      
  der Menschheit, und weißagt derselben Schiksaale, die zittern machen;      
  alle Anstalten sind wenigstens da, um es zu bereiten. Die heilige      
  aidos scheint ganz den Erdboden verlaßen zu wollen. Ein sich selbst      
  zerstörender Egoismus, entartet die Europäer, und verschlingt alle edle      
  Gefühle bei ihnen In gewißen bedrängenden Augenblikken des tiefsten      
  Seelenschmerzes und inniglichsten Unwillens, wird einem der Gedanke      
  denkbar: Gott könne die Menschen, wegen moralischer Verderbniß, aus      
  freiwilliger Bestimmung, vom Erdboden vertilgen, um ihn von den      
  Verschuldungen zu reinigen, und einer beßern Menschenart Plaz zu      
  machen. Es geschehen izt Dinge auf Erden, die das moralische Gefühl      
  so empören, daß es ihm zum äußersten Bedürfniß wird: Strafe und      
  Verdamniß, in einem andern Leben zu wünschen, um die Vernunft,      
  durch diesen zum Glauben gewordnen Wunsch, vor der Verzweiflung      
  zu retten: sich selbst für ein Unding und die Welt für ein Irrenhaus      
  zu halten, wo die Tollhäusler einander die Köpfe zerschlagen.      
           
  Doch ich muß hier abbrechen. Sie haben in lezter Meße, ein      
  neues Werk, ohne Ihren Nahmen, herausgegeben; aber ich habe den      
  Verfaßer bald erkannt. Möge dieses Buch viel Seegen stiften!      
  Theilnehmend begleiten meine Blikke Sie, auf Ihrer glänzenden Laufbahn,      
  und der Ruhm, der Sie am Abend Ihrer Tage krönt, ist für      
  mich ein erhebender Anblik! Widmen Sie, ehrwürdiger Greis, Ihr      
  noch übriges Leben dazu, den Menschen Wahrheiten zu sagen, die sie      
  izt am meisten bedürfen. Es wird so wenig für die gute Sache der      
  Menschheit geschrieben; und das, was darüber geschrieben wird, ist      
  meistens zwekwidrig. Mehrere unserer, in andern Fächern guten,      
  Schriftsteller, scheinen, wenn sie über diesen Punkt schreiben, den Kopf      
  zu verliehren. Ich vermiße Überzeugung, Nachdruck, Würde, Ernst,      
  männliche Kraft, ruhige Faßung, Weisheit und Klugheit, bei dem      
  Inhalt und Gepräge ihrer Schriften. Wie sehr kann ein Mann, wie      
  Sie, izt ein Wort zu rechter Zeit reden!      
           
  Ob ich gleich diesen Sommer zum dritten Mahle meine Metaphysik,      
  die ich dieses halbe Iahr wieder lese, ausarbeite, so bin ich      
           
  mit meinem System, doch noch nicht aufs reine. Ihre Werke, liegen      
  auf meinem Schreibtisch mir immer zur Hand. Zuvor aber, ehe ich      
  mich diesen Untersuchungen ganz und gar widme, werde ich noch eine      
  Wallfarth ins Alterthum tun. Mein Hauptzwek mit, bei diesem      
  Studium, ist, die Nichtigkeit des der menschlichen Vernunft gemachten      
  Vorwurfs zu zeigen, als wenn sie nur erst seit jüngern Zeiten, auf      
  die Idee eines Göttlichen Wesens gekommen wäre, und hiezu einer      
  andern, als ihrer eignen, Hülfe bedurft hätte; ferner, die Geschichte,      
  den Zusammenhang und alten entfernten Ursprung jenes merkwürdigen      
  Systems zu entwikkeln, das auf die Schiksaale und die Denkart der      
  Menschen, einen so unermeßlichen Einfluß gehabt, und daher genauer      
  untersucht zu werden, doch wohl verdient. Es ergeben sich hieraus      
  Warheiten, als Resultate, die, wenn sie, so wie sie schon philosophisch      
  erkannt sind, auch historisch anschauend gemacht, recht verstanden und      
  beherzigt werden, die menschliche Erkenntniß, über verschiedene wichtige      
  Gegenstände, sehr berichtigen können. Ehe der Saz nicht als allgemein      
  wahr anerkannt wird: daß keine Vernunftwarheit offenbart werden      
  kann, ist kein daurendes Heil und Wohl für die Menschen zu hoffen.      
  Allein das Publikum, das, da ich einige Iahre zu spät kam, schon      
  Parthei ergriffen hatte, kann oder will mich zum Theil nicht verstehn.      
  Ich habe zeither, noch einmahl die Alten studirt, auch zum Theil die      
  Astronomie derselben (als mit welcher die alte Metaphysik in Verbindung      
  steht), vorzüglich aber ganz von vorn, den Plato und Aristoteles;      
  wo ich manchen Fund wieder gethan, und zum beßern Verständni      
  der Eleatischen und Aristotelischen Philosophie gelangt bin; in deren      
  Darstellung, wie sie, im zweiten Bande meiner Versuche zur Aufklärung      
  der Philosophie des ältesten Alterthums, enthalten ist, ich manches      
  verändern, und ein neues Werk, unter dem vermuthlichen Tittel: Resultate      
  aus der Geschichte der Menschheit im ältesten Alterthum, herausgeben      
  werde. Aus der Vergleichung und Vereinigung der Entdekkungen      
  der neuern Naturgeschichte, mit den Resultaten der ältesten Urkunden      
  der Geschichte, über eine große Erd=revolution, ist es mir zur höchsten      
  Warscheinlichkeit gediehn: daß eine große physische Revolution, vormahls      
  einen großen Theil der Oberfläche des Erdbodens ins Meer      
  versenkt, dadurch neues Land hervorgebracht, und die physische und      
  klimatische Beschaffenheit deßelben, ganz verändert und verschlimmert      
  habe. Diese große Weltbegebenheit, glaube ich, ist der erste veste      
           
  Standpunkt, von dem man bei der Geschichte der Menschheit ausgehn      
  muß. Indem man seine Untersuchungen hier anknüpft, gewinnen sie,      
  durch diese Verbindung, mehr Licht, über den Ursprung und die Natur      
  gewißer Lehrsäzze jenes alten Systems; über die dann auch, aus der      
  Natur der Vernunft selbst, wenn man dem natürlichen Gange nachspürt,      
  den sie in jenen Zeiten und unter jenen Umständen nehmen      
  mußte, mancher Aufschluß geschöpft werden kann.      
           
  Doch ich muß hier abbrechen, schon zu lange habe ich Sie hiemit      
  unterhalten. - Leben Sie wohl, ehrwürdiger Mann! Laßen Sie      
  mich Ihrem Andenken von neuen empholen seyn, und nehmen Sie      
  das herzliche Bekenntniß meiner Verehrung und H[och]achtung an, mit      
  der ich bin      
           
    Dero      
  Duisburg am Rhein treugehorsamster      
  d. 6 Aug. 92. Pleßing      
           
  Königsberg ist mir ganz unbekannt geworden. Ist HE Brahl      
  noch am Leben, oder noch in Königsberg, und sollten Sie Gelegenheit      
  haben, ihn zu sehn, so haben Sie die Güte, ihm mein Andenken      
  zu bezeugen.      
           
           
           
     

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