Kant: Briefwechsel, Brief 519, An Alexander Fürst von Beloselsky. (Entwurf.)

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Alexander Fürst von Beloselsky.      
  (Entwurf.)      
           
  [Sommer 1792.]      
           
  Das schätzbare Geschenk welches Ew: Erlaucht: mir im vergangenen      
  Sommer mit Ihrer vortreflichen Dianiologie etc. zu machen geruheten      
  ist mir richtig zu Handen gekommen von welchem ich zwey Exemplare      
  an Männer die den Werth desselben zu schätzen im Stande sind ausgetheilt      
  habe. Meinen schuldigen Dank dafür abzustatten habe die      
  darüber verflossene Zeit hindurch keineswegs vergessen wohl aber überhäufter      
  Hinderungen wegen immer aufschieben müssen um dabey zugleich      
  auch etwas von der Belehrung zu sagen die ich daraus gezogen      
  habe wovon ich aber auch jetzt nur einige Hauptzüge anführen kan.      
           
  Ich bin seit einigen Iahren damit beschäftigt die Gränze des      
  menschlichen speculativen Wissens überhaupt auf das bloße Feld aller      
  Gegenstande der Sinne einzuschränken da alsdann die speculative Vernunft      
  wenn sie sich über diese Sphäre hinauswagt in jene in Ihrem      
  Tableau bezeichneten espaces imaginaires fällt wo für sie nicht Grund      
  nicht ufer d. i. schlechterdings kein Erkentnis moglich ist. - Es war      
  aber Ew. Erl. aufbehalten jene metaphysische Gränzbestimmung der      
  menschlichen Erkentnisvermögen womit ich mich seit einigen Iahren beschäftigt      
  habe der menschlichen Vernunft in ihrer reinen Speculat[ion]      
  auch auf einer andere nämlich Anthropologischen Seite zu bewerkstelligen      
  welche die für jedes Individuum die Grentzen der ihm angemessenen      
  Sphäre zu unterscheiden lehrt und zwar vermittelst eines Demarculum      
  welche sich auf sicheren Principien gründet und eben so neu und scharfsinnig      
  als schön und einleuchtend ist.      
           
  Es ist eine herrliche nie gehorig eingesehene noch weniger aber      
  so gut ausgeführte Bemerkung daß einem jeden Individuum für seinen      
  VerstandesGebrauch die Natur eine eigenthümliche Sphäre bestimmt      
  habe in der er sich erweitern kan daß es deren vier gebe und niemand      
  die seinige überschreiten könne ohne in die Intervalle zu fallen welche      
  insgesamt denen benachbarten Spähren sehr angemessen benannt sind      
  (wenn man die Sphäre welche der Mensch mit den Thieren gemein      
  hat namlich die des Instincts bey Saite setzt)      
           
  Wenn es mir erlaubt ist unter dem Allgemeinen Gattung des      
           
  Verstandes ( l'intelligence universelle ) den Verstand in besonderer      
  Bedeutung ( l'entendement ) die Urtheilskraft und die Vernunft alsdann      
  aber die Verbindung dieser drey Vermögen mit der Einbildungskraft      
  welche das Genie ausmacht . . . .      
           
  Zuerst die Eintheilung des Vorstellungsvermögens in die der bloßen      
  Auffassung der Vorstellungen apprehensio bruta ohne Bewustseyn, ist      
  lediglich für das Vieh und die sphaere der apperception , d. i. der Begriffe,      
  die letztere macht die sphaere des Verstandes überhaupt. Diese      
  ist die sphaere 1. der intelligence. des Verstehens d. i. des Vorstellens      
  durch allgemeine Begriffe in abstracto 2 des Beurtheilens der Vorstellung      
  des Besonderen als unter dem Allgemeinen enthalten subsumtis      
  unter Regeln allgemein in concreto der Urtheilskraft 3 des Einsehens      
  perspicere der Ableitung des Besonderen aus dem allgemeinen d. i.      
  die sphaere der Vernunft - Uber diese die Sphäre der Nachahmung      
  es sey der Natur selbst nach ähnlichen Gesetzen apprentissage oder der      
  originalitaet transscendance der Ideale. Diese ist entweder die der      
  transscendenten Imagination d. i. der Ideale der Einbildungskraft      
  genie Geist - esprit welche wenn die Formen der Einbildung der      
  Natur wiedersprechen die Sphäre der Hirngespenster monstren Phantasterey      
  oder der transscendenten Vernunft d. i. der Ideale der Vernunft      
  welche wenn sie auf bloße Erweiterung der Speculation über      
  das was gar nicht gegenstand der Sinne seyn mithin nicht zur Natur      
  gehören kan lauter leere Begriffe seyn. Die Sphare der Schwarmerey      
  qui cum ratione insaniunt und den Verstand dahin zurük bringen wo      
  die betise war namlich nichts von seiner Idee zu verstehen.      
           
  Folgendes ist die Belehrung die ich für mich aus dieser vortreflichen      
  Zeichnung [ziehe?]. Verstand ( l'entendement ) in allgemeiner Bedeutung      
  das was man sonst das Obere Erkentnisvermögen benennt dem die sensualité      
  entgegengesetzt ist. Es ist überhaupt das Vermögen zu denken da      
  die letzte ist das Vermögen der gedankenlosen anzusehen oder zu empfinden      
  ist. Die Spähre der letzteren haben Sie sehr wohl (wenn der Verstand      
  darin fällt) die sphaere der betise genannt. Unter jenen ist der      
  Verstand in besonderer Bedeutung die Urtheilskraft und die Vernunft      
  enthalten. Der erste ist das Vermögen zu verstehen ( intelligence ) die      
  zweyte das Vermögen zu beurtheilen ( iugement ) die dritte einzusehen      
  ( perspica[ci]) der Vernunft. Durch Vernachläßigung kan der Mensch bisweilen      
  aus der Sphare des Verstandes in das Leere der betise zurükfallen      
           
  oder durch überspannung in die der leeren Vernünfteley espace      
  imaginare. Daher Ihre Eintheilung in 5 Sphären wo denn für den      
  Verstand ( l'entendement ) eigentlich nur drey übrig bleiben. Mit Recht      
  haben Sie Verstand l'intelligence und Urtheilkraft ob sie zwar ganz      
  verschiedene Vermögen sind in eine Sphäre zusammen gezogen weil      
  die Urtheilskraft nichts weiter ist als das Vermögen seinen Verstand      
  in concreto zu beweisen und die Urtheilskraft nicht neue Erkentnisse      
  schafft sondern nur wie die Vorhandenen anzuwenden sind unterscheidet.      
  Der Titel ist bon sens der in der That hauptsächlich auf der Urtheilskraft      
  ankommt. Man könte sagen durch Verstand sind wir im Stande      
  zu erlernen (d. i. regeln zu fassen) durch Urtheilskraft vom Erlernten      
  Gebrauch zu machen (Regeln in concreto anzuwenden) durch Vernunft      
  zu erfinden Principien für manigfaltige Regeln auszudenken. Daher      
  wenn beyde erstere Vermögen unter dem titel bon sens (eigentlich      
  intelligence und jugement zusammen vereinigt) die erste eigentliche      
  Sphäre des Verstandes ausmachen so ist die Sphare der Vernunft      
  etwas einzusehen mit Recht die Zweyte. Alsdann aber ist die Sphäre      
  zu erfinden ( de transscendance ) die Dritte. Die Vierte gehört zur      
  Verbindung der Sinlichkeit mit dem oberen Vermögen d. i. der Erfindung      
  dessen was zur Regel dient ohne Leitung der Regeln vermittelst      
  der imagination d. i. die Sphäre des Genie welche wirklich nicht zum      
  bloßen Verstande gezählt werden kan      
           
  Die Sphäre der perspicacite ist die der systematischen Einsicht      
  des Zusammenhanges der Vernunft der Begriffe in einem System.      
  Die des Genie die der Verbindung der ersten mit der originalitaet      
  der Sinlichkeit      
           
           
           
     

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