Kant: Briefwechsel, Brief 453, An Iohann Friedrich Reichardt.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Iohann Friedrich Reichardt.      
           
  15. Oct. 1790.      
           
  Theurester Freund.      
  Meine gringe Bemühungen im ersten philosoph. Unterrichte,      
  welchen Sie bey mir genommen haben, wenn ich mir schmeicheln darf,      
  daß sie zu der jetzigen rühmlichen Entwickelung Ihrer Talente etwas      
  beygetragen haben, belohnen sich von selbst und Ihre Äußerung einer      
  Erkentlichkeit dafür nehme ich als ein Zeichen der Freundschaft gegen      
  mich dankbarlich an.      
           
  Aus dem Gesichtspuncte der letzteren muß ich es auch beurtheilen,      
  wenn Sie von meinen Schriften seelenberuhigende Eröfnungen hoffen,      
  wiewohl ihre Bearbeitung diese Wirkung bey mir gethan hat, die sich      
  aber, wie ich aus vielen Beyspielen ersehe, nur mit Schwierigkeit      
  anderen mittheilen läßt; woran wohl die dornigte Pfade der Speculation,      
  die doch, um solchen Grundsätzen Dauerhaftigkeit zu verschaffen,      
  einmal betreten werden müssen, eigentlich Schuld seyn mögen.      
           
  Angenehm würde es mir seyn, wenn die Grundzüge, die ich von      
  dem so schweer zu erforschenden Geschmacksvermögen entworfen habe,      
  durch die Hand eines solchen Kenners der Producte desselben, mehrere      
  Bestimmtheit und Ausführlichkeit bekommen könnten. Ich habe mich      
  damit begnügt, zu zeigen: daß ohne Sittliches Gefühl es für uns      
  nichts Schönes oder Erhabenes geben würde: daß sich eben darauf der      
  gleichsam gesetzmäßige Anspruch auf Beyfall bey allem, was diesen      
  Nahmen führen soll, gründe und daß das Subjective der Moralität      
  in unserem Wesen, welches unter dem Nahmen des sittlichen Gefühls      
  unerforschlich ist, dasjenige sey, worauf, mithin nicht auf obiective      
  Vernunftbegriffe, dergleichen die Beurtheilung nach moralischen Gesetzen      
  erfordert, in Beziehung, urtheilen zu können, Geschmak sey:      
  der also keinesweges das Zufällige der Empfindung, sondern ein (obzwar      
  nicht discursives, sondern intuitives) Princip a priori zum      
  Grunde hat.      
           
  Das Geschenk mit den schönen Landcharten, welches Sie mir zugedacht      
  haben, wird mir, vornehmlich als ein Denkmal Ihres freundschaftlichen      
           
  Angedenkens an mich, sehr angenehm seyn, wie ich denn      
  mit vollkommener Hochachtung und Freundschaft jederzeit bin      
           
    Ew: Wohlgebohren      
    ganz ergebenster Diener      
  Koenigsberg I Kant      
  den 15 Octbr 1790.        
           
           
           
     

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