Kant: Briefwechsel, Brief 392, An Carl Leonhard Reinhold. |
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| An Carl Leonhard Reinhold. | |||||||
| 1. Dec. 1789. | |||||||
| Ihre schätzbare Abhandlung vom Vorstellungsvermögen, Werthester | |||||||
| Freund! ist mir sicher zu Handen gekommen. Ich habe sie stückweise | |||||||
| so fern hinreichend beurtheilen können, daß ich die neue Wege, um | |||||||
| zur völligen Aufklärung dieser verwickelten Materie zu gelangen, nicht | |||||||
| verkannt zu haben aber nicht gnug, um ein Urtheil über das Ganze | |||||||
| fällen zu können. Das letztere behalte mir für die instehende Weynachtsferien | |||||||
| vor. Sie scheinen mir, Theurer Mann, meinen Aufschub für | |||||||
| Gleichgültigkeit zu nehmen und als ob Ihre von mir, ihrer Klarheit | |||||||
| und Bündigkeit wegen, immer vorzüglich geschätzte und bewunderte | |||||||
| Arbeiten bey mir nur eine Stelle im Bücherschrancke finden dürften, | |||||||
| ohne daß ich Zeit fände, sie durchzudenken und zu studiren. Wie ist | |||||||
| es möglich dieses von dem zu vermuthen, der von der Helligkeit und | |||||||
| Gründlichkeit Ihrer Einsichten diejenige Ergänzung und lichtverbreitende | |||||||
| Darstellung hofft, die er selbst seinen Arbeiten nicht geben kan. Es | |||||||
| ist schlimm mit dem Altwerden. Man wird nach und nach genöthigt | |||||||
| mechanisch zu Werke zu gehen, um seine Gemüths und Leibeskräfte zu | |||||||
| erhalten. Ich habe es seit einigen Iahren für mich nothwendig gefunden, | |||||||
| den Abend niemals einem zusammenhangenden Studio, es sey | |||||||
| über ein Buch im Lesen desselben, oder zu eigener Ausarbeitung zu | |||||||
| widmen, sondern nur durch einen Wechsel der Dinge mit denen ich | |||||||
| mich unterhalte, es sey im Lesen oder Denken, mich abgebrochen zu | |||||||
| beschäftigen, um meine Nachtruhe nicht zu schwächen; wogegen ich früh | |||||||
| aufstehe und den ganzen Vormittag beschäftigt bin, von dem mir doch | |||||||
| ein Theil durch Vorlesungen weggenommen wird. Im 66 sten Lebensjahre | |||||||
| fallen überdem subtile Nachforschungen immer schweerer und man | |||||||
| wünscht von ihnen ausruhen zu dürfen, wenn man sich nur so glücklich | |||||||
| findet, daß andere sie aufnehmen und fortsetzen möchten. Das letztere | |||||||
| glaube ich in Ihrer Person zu finden, wofür ich Ihnen, so wie das | |||||||
| Publicum es unfehlbar auch seyn wird, lebhaft verbunden bin. - Ich | |||||||
| habe etwas über Eberhard unter der Feder. Dieses und die Critik | |||||||
| der Urtheilskraft werden hoffentlich Ihnen um Ostern zu Handen | |||||||
| kommen. - Mein Freund Kraus macht Ihnen seine verbindliche Empfehlung. | |||||||
| Ich muß es von seiner für letzt gegen alle speculative | |||||||
| Grübeley gestimmte Laune abwarten, daß sie sich von selbst abändere; | |||||||
| da alsdann Ihre Arbeit hoffentlich die erste sein würde die er in | |||||||
| Uberlegung zöge. | |||||||
| Ubrigens beharre mit innigster Hochachtung und Liebe | |||||||
| Koenigsberg | ganz der Ihrige | ||||||
| den 1. Dec. | I Kant | ||||||
| 1789 | |||||||
| [ abgedruckt in : AA XI, Seite 111 ] [ Brief 391a ] [ Brief 393 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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