Kant: Briefwechsel, Brief 346, Von Heinrich Jung=Stilling. |
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Von Heinrich Jung=Stilling. | |||||||
Marburg den 1 sten März 1789. | |||||||
Verehrungswürdiger Mann! | |||||||
Das ist das zweytemal, daß ich in meinem Leben an Sie schreibe, | |||||||
vor etlichen Iahren schickte ich Ihnen ein Tractätgen, Blicke in die | |||||||
Geheimnüsse der NaturWeisheit, welches ich anonymisch hatte | |||||||
drucken laßen, Sie werden sich dessen noch wohl erinnern, jezt aber | |||||||
rede ich in einem ganz andern Ton mit Ihnen, jezt kan ich nicht | |||||||
anders als Ihnen von ganzem Hertzen dancken. | |||||||
Meine ganze Lebens Geschichte, die unter Stillings Namen zu | |||||||
Berlin bey Decker herausgekommen, beweist, wie sehr ich Ursache habe, | |||||||
einen Gott, einen Erlöser und Lehrer der Menschen, und die allerspeziellste | |||||||
Vorsehung zu glauben; wie sehr ich mich also bey dem schrecklichen | |||||||
philosophischen Wirwarr und Unsinn, Pro und Contra Gerässonir, | |||||||
genöthigt sahe, an das Neue Testament zu halten, wenn ich nicht in | |||||||
einen Grund= und Bodenlosen Abgrund versincken wollte. und doch | |||||||
runge meine Vernunft unaufhörlich nach apodiktischer Gewisheit, die | |||||||
mir weder Bibel, noch Wolf, noch Mysticker noch Hume, noch Loke, | |||||||
noch Schwedenburg, noch Helvetius geben konnte, unbedingtes banges | |||||||
ängstliches Glauben war also mein Looß; indessen drung der Determinismus | |||||||
mit aller seiner HeeresMacht auf mein Herz, auf Verstand | |||||||
und Vernunft an, um mich ganz einzuschliesen und allmälig zu erobern. | |||||||
Kein Feind war mir von jeher fürchterlicher als eben der | |||||||
Determinismus, er ist der gröste Despote der Menschheit, er erstickt | |||||||
jeden Keim zum Guten, und jedes fromme Vertrauen auf Gott, und | |||||||
doch ist er so zuverläsig und so gewiß wahr, so entscheidend für jeden | |||||||
denckenden Kopf, daß die Welt ohne Rettung verlohren, Religion und | |||||||
Sitten hin sind, so bald wir unsre SinnenWelt isoliren, und glauben, | |||||||
sie sey an sich selbst gerad so wie wir sie uns vorstellen und dencken. | |||||||
Wer in aller Welt läst sich aber träumen, daß es einen Kantischen | |||||||
transcendentalen Idealismus giebt? - hätten Sie dies Geheimnis | |||||||
nicht aus den Tiefen der menschlichen Seele hervorgearbeitet und offenbart | |||||||
was wär dann aus der Sache geworden? Alles was die Grosen | |||||||
unserer Zeit von feinerem Determinismus träumen, sind Seifenblaßen, | |||||||
die sich alle am Ende in Fatalismus auflößen, da ist keine Rettung, | |||||||
kein anderer Ausweg. | |||||||
In dieser Angst kamen mir verwichenen Herbst einige Abhandlungen | |||||||
im teutschen Museum zu Gesicht, die vom SittenGesetz handelten, | |||||||
auf einmal wurde mir warm; die allgemein verschriene Dunckelheit | |||||||
Ihrer Schriften, und das Geschwäz Ihrer Gegner, als wenn Sie | |||||||
der Religion gefährlich wären hatten mich abgeschreckt, jezt aber gab | |||||||
ich mich ans Werck, laße erst Schulzens Erläuterung der Critik der | |||||||
reinen Vernunft, und so wie ich laße, alles faste, alles begrif, so | |||||||
fiel mir die Hülle von den Augen, mein Hertz wurde erweitert, und | |||||||
es durchdrung mich ein Gefühl von Beruhigung das ich nie empfunden | |||||||
hatte. Ich laß also nun die Critick der reinen, und dann auch der | |||||||
praktischen Vernunft, und bey mehrmaliger Wiederholung verstehe und | |||||||
begreif ich alles, und finde nun apodiktische Wahrheit und Gewisheit | |||||||
allenthalben. Gott seegne Sie! - Sie sind ein groses sehr groses | |||||||
Werckzeug in der Hand Gottes; ich schmeichle nicht - Ihre Philosophie | |||||||
wird eine weit grösere geseegnetere und allgemeinere Revolution | |||||||
bewürcken als Luthers Reformation. Denn so bald man die Critick | |||||||
der Vernunft wohl gefast hat, so sieht man das keine Widerlegung | |||||||
möglich ist; folglich muß Ihre Philosophie ewig und unveränderlich | |||||||
seyn, und ihre wohlthätige Würckungen werden die Religion Iesu auf | |||||||
ihre ursprüngliche Reinigkeit, wo sie bloß Heiligkeit zum Zweck hat, | |||||||
führen; alle Wissenschaften werden systematischer reiner und gewisser | |||||||
werden, und die Gesetzgebung besonders wird außerordentlich gewinnen. | |||||||
Ich bin ordentlicher Lehrer der StaatsWirthschaft im ganzen | |||||||
Umfang des Worts; eine ganze Reyhe von Lehrbüchern in diesem | |||||||
Fach ist von mir im Druck erschienen, und durchgehends sind alle wohl | |||||||
aufgenommen worden; und doch sehe ich allenthalben Mängel und | |||||||
Gebrechen, weil es mir an einer wahren und reinen Methaphysick der | |||||||
Gesetzgebung mangelt, diese leztere ist bey mir die Hauptsache, wie | |||||||
sehr wünschte ich, daß Sie auch diese noch bearbeiten könnten? haben | |||||||
wir Hofnung dazu? | |||||||
Nach den vier Classen der Categorien fielen mir lezthin bey | |||||||
Lesung des Geistes der Gesetze von Montesquieu, auch sich vier darauf | |||||||
gründende Principien des Naturgesetzes ein. (1.) Erhalte dich selbst. | |||||||
(2.) Befriedige deine Bedürfnisse. (3.) Sey ein Glied der bürgerlichen | |||||||
Gesellschaft, und (4.) Vervollkommne dich selbst. Ich will nun die | |||||||
Critick der practischen Vernunft noch einmal recht durchstudiren, und | |||||||
sehen ob ich auf die Spur komme, Dörfte ich wohl ihre Gedancken | |||||||
über obige Prinzipien erwarten? ich will Ihnen gewis so selten wie | |||||||
möglich eine Stunde rauben, allein da ich nun anfange mein System | |||||||
der Staatswirthschaft auszuarbeiten, so mögte ich gern sichern Grund | |||||||
haben, und auf Ihre Philosophische Grundsätze bauen. | |||||||
Gott wie ruhig, wie voller seeligen Erwartung können Sie dem | |||||||
Abend Ihres Lebens entgegen gehen! Gott mache ihn heiter und | |||||||
voller Empfindungen der frohen Zukunft, leben Sie wohl, groser edler | |||||||
Mann! Ich bin ewig | |||||||
Ihr | |||||||
wahrer Verehrer | |||||||
Dr. Jung. | |||||||
[ abgedruckt in : AA XI, Seite 007 ] [ Brief 345 ] [ Brief 347 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |