Kant: AA XII, Öffentl. Erklärungen 1797 , Seite 366 |
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01 | auch selbst neben und in den öffentlichen Geschäften die mir meine Aemter auflegten, | ||||||
02 | habe ich meinen Geist mit der Philosophie emsig und mit Anstrengung beschäftiget. | ||||||
03 | Sie werden also auf den angenommenen Fall zuverlässig einen weit stärkern und | ||||||
04 | glücklicheren Vertheidiger und Ausbreiter Ihres Systems haben, als Sie izt an so | ||||||
05 | vielen aufbrausenden Iünglingen und jugendlichen Männern haben, die als sich so | ||||||
06 | nennende Kantianer zwar mit stolzer Unbescheidenheit auch den größten Geistern | ||||||
07 | Hohn sprechen, gleichwohl aber, wie ihre Schriften nur allzudeutlich zeigen, im | ||||||
08 | Selbstdenken gar zu wenig geübt sind, und mit jugendlicher Dreistigkeit und | ||||||
09 | Selbstgenügsamkeit das was sie ihrem Lehrer blos nachbeten, für eigne Geistesprodukte | ||||||
10 | aufstellen, und, da sie aus Mangel des Selbstdenkens in den Geist ihres | ||||||
11 | Führers nicht tief genug eindringen können, mit einander selbst die entehrendsten | ||||||
12 | Streitigkeiten führen, und sich und die Welt verwirren. | ||||||
13 | Wenn aber auf der andern Seite ich Sie von der Unrichtigkeit Ihrer kritischen | ||||||
14 | Philosophie überführen werde, so werden Sie, wie ich es von Ihnen hoffe, zum | ||||||
15 | Besten der Menschen widerrufen was Sie bisher schrieben; und dagegen werden | ||||||
16 | Sie noch vor Ihrem wahrscheinlich nicht mehr fernen Abschiede aus dieser Welt | ||||||
17 | den schmalen Weg zu der wahren festen Philosophie selbst betreten, und solange | ||||||
18 | Sie noch leben, breiter machen helfen. Die wahre Philosophie bildet die unwidersprechlichste | ||||||
19 | Theorie von der Realität einer unendlichen Allkraft, von den produktiven | ||||||
20 | Kräften der Natur, und von den bewunderungswürdigen und erhabenen Eigenschaften | ||||||
21 | und Fähigkeiten des physischen und des geistigen Menschen; und in ihrem | ||||||
22 | praktischen Theile will sie nicht durch einen lieblosen despotischen kategorischen Imperativ, | ||||||
23 | der selbst dem Wesen der Vernunft ganz zuwider ist, sondern durch die | ||||||
24 | sanften allmächtigen Seile der allbelebenden Liebe, die Menschen - nicht einem | ||||||
25 | bloßen Ideal des höchsten Guten, sondern dem realsten Wesen aller Wesen, Gotte, | ||||||
26 | immer näher bringen. Diese Philosophie, mein lieber alter Bruder Kant! wird | ||||||
27 | die vielen unruhigen Wünsche Begierden und Strebungen Ihrer unmäßigen Selbstsucht | ||||||
28 | stillen, und Ihnen einen inneren unaussprechlichen himmlischen Frieden verschaffen; | ||||||
29 | welches Ihre, in so vielen Bagatellen und Nichtswürdigkeiten sich herumtreibende | ||||||
30 | Philosophie nie vermag. | ||||||
31 | Hier schließe ich nun meinen Brief, lieber Kant! Ich schrieb ihn als Ihr | ||||||
32 | redlicher Mitmensch und Bruder, weil es mich innigst schmerzte, Sie auf einem | ||||||
33 | Wege wandeln zu sehen der zu Ihrer eigenen Seele und zu so vieler Menschen | ||||||
34 | Verderben führt. Gott verzeihe es jenen niedrigen und unwürdigen Schmeichlern, | ||||||
35 | die bisher sich nicht schämten aus Unverstand Sie der Welt zum Abgott aufzustellen, | ||||||
36 | und dadurch Ihre arme allzueigensüchtige Seele aufs höchste zu reizen, sich | ||||||
37 | Ihrer Selbstheit ganz zu überheben! Ich bitte Sie um eine baldige meinen Wünschen | ||||||
38 | entsprechende Antwort, und bleibe stets Ihr aufrichtiger Bruder, und in Hinsicht | ||||||
39 | auf Ihre Talente und Thätigkeit | ||||||
40 | Ihr | ||||||
41 | wahrer Verehrer | ||||||
42 | Iohann August Schlettwein. | ||||||
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