Kant: AA XII, Öffentl. Erklärungen 1797 , Seite 365

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Allein ich glaube      
           
  02 Viertens im Stande zu sein Ihr ganzes philosophisches System, so weit      
  03 es Ihr eignes ist, beides den theoretischen und praktischen Theilen nach, völlig umzustürzen,      
  04 weil die ersten Gründe desselbigen unhaltbar sind, auch nach meinem      
  05 inneren Gefühl von Ihnen Selbst niemal so diktatorisch würden behauptet worden      
  06 sein, wenn Sie Sich nicht hätten durch Ihre allenthalben so deutlich sich offenbarende      
  07 allzueitle Absichten bei Ihren philosophischen Arbeiten, und durch die daraus      
  08 entstandene unmäßige Vorliebe für Ihre eigenen Begriffe, und die aus dieser      
  09 Vorliebe entsprungene Vernachläßigung der nöthigen Aufmerksamkeit auf die Wirkungen      
  10 des menschlichen Geistes, täuschen lassen.      
           
  11 Ich wünschte nun allerdings recht sehr, mein werthester, mein brüderlichgeliebter      
  12 Kant! daß Sie Selbst Sich dazu bequemen mögten, wie Sie es thun zu      
  13 wollen Sich vormal in den Prolegomenen zur Metaphysik erklärten mit mir in      
  14 philosophische Verhandlungen über meine ausführliche Prüfung Ihrer Kritik der      
  15 reinen Vernunft einzugehn. Wenn Sie es aber, wie es aus der Vorrede zur zweiten      
  16 Auflage Ihrer Kritik zu ersehen, oder doch zu vermuthen ist, nicht so wollen, so      
  17 sagen Sie mir, welchen von Ihren Schülern oder Anhängern Sie für den halten      
  18 der Ihre Stelle in Absicht auf die Vertheidigung Ihres Systems am vollkommensten      
  19 vertreten kann, damit ich mich an diesen wende. Meine Briefe an Sie, über den      
  20 Nutzen den Sie der Welt von Ihrer kritischen Philosophie verheißen, über die Einleitung      
  21 Ihrer Kritik der reinen Vernunft, über Ihre Aesthetik, und über einen großen      
  22 Theil der transszendentalen Logik, liegen nun fertig da um an Sie abgesandt werden      
  23 zu können. Aber ich mögte dies nur erst alsdann thun, wenn Sie mir vorher die      
  24 Versicherung geben, selbst, oder durch Ihren vertrautesten Freund und Schüler,      
  25 von welchem Sie mit Gewißheit bestimmt sagen können daß er Ihr System sich      
  26 ganz zu eigen gemacht habe, so viel wenigstens den Zentralpunkt desselben betrift,      
  27 mir eine Antwort zu ertheilen, und mit mir die wichtigen philosophischen      
  28 Materien soweit zu behandeln, bis wir einander, entweder Sie mir, oder ich Ihnen,      
  29 vollkommen beizustimmen genöthigt sein werden. Ich gebe Ihnen das heiligste      
  30 Versprechen immer nur streng bei der Sache zu bleiben, nichts Fremdes einzumischen,      
  31 mit reiner Simplizität durchaus zu Werke zu gehen, keinem spöttelnden      
  32 Witz über Sie oder über Ihre Behauptungen Raum zu lassen, und vom Anfange      
  33 bis ans Ende die durch die Gerechtigkeit selbst gebotene Bescheidenheit und Achtung      
  34 gegen Sie zu beobachten. Mir liegt Alles daran die Wahrheit zu erkennen, und      
  35 unter meinen Mitmenschen auszubreiten. Wenn Sie nun, mein lieber Kant! von      
  36 der ächten Liebe zur Wahrheit ebenfalls belebt sind, wie ich herzlich wünsche, und      
  37 solches von Ihnen so gern glauben mögte; so habe ich das völlige Vertrauen zu Ihrem      
  38 und zu meinem Eifer, zu Ihren und zu meinen Kräften, daß wir durch unsre gegenseitige      
  39 Verhandlungen für die wahre Philosophie die wichtigsten Dienste leisten werden.      
           
  40 Wenn Sie meine Einwürfe wider Ihr System gründlich auflösen, und mich      
  41 von Ihren Begriffen und Behauptungen überzeugen sollten, so werde ich der redlichste      
  42 Mitarbeiter in dem Felde Ihrer kritischen Philosophie werden. Ich lege      
  43 nächstens mein sechsundsechzigstes Iahr zurück; und beinahe funfzig Iahre hindurch,      
           
     

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