Kant: AA XII, Briefwechsel 1795 , Seite 013 |
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01 | Unsere Vernunft, so klein sie auch immer seyn mag in Vergleichung | ||||||
02 | mit höheren Geistern, so ist sie doch ein Erkenntnißvermögen, welches | ||||||
03 | die Thiere weit übertrifft - denn die Thiere können unmöglich das | ||||||
04 | Wissen erlangen, was meine Vernunft durch fleißiges Lernen erlangt | ||||||
05 | hat - die Thiere können die Erkenntniß nicht erlangen Was Weisheit | ||||||
06 | u. Thorheit ist - was Recht u. Unrecht ist - daher können | ||||||
07 | ihnen keine Regeln der Weisheit u. keine Gesetze der Gerechtigkeit gegeben | ||||||
08 | werden; | ||||||
09 | Am allerwenigsten können die Thiere verpflichtet werden zu dem | ||||||
10 | in aller Menschen Herzen geschriebenen Gesetzen der Liebe. | ||||||
11 | Die Thiere können nicht erkennen, daß es nützlich u. erfreulich | ||||||
12 | ist, Gott den allergrößesten Wohlthäter zu lieben über Alles, u. seinen | ||||||
13 | Nächsten als sich selbst. Dises Wissen ist etwas Gutes, dieses Wollen | ||||||
14 | ist etwas beßeres - dises ohne alle innerliche Hindernisse allezeit | ||||||
15 | Können, das ist noch besser - dises allezeit Thun das ist das | ||||||
16 | Allerbeste. | ||||||
17 | Sie schreiben in Ihrer Moral S. 1. "Es ist über all nichts in | ||||||
18 | "der Welt, ja überhaupt auch ausser derselben zu denken möglich was | ||||||
19 | "ohne Einschränkung für Gut könnte gehalten werden, als allein | ||||||
20 | "ein guter Wille." Allein ein guter Wille!!! Ich habe mich sehr | ||||||
21 | verwundert über dise Worte - Ich mache mir eine Ehre daraus ein | ||||||
22 | Nachbether zu seyn Moses u. der Propheten, der Evangelisten u. der | ||||||
23 | Apostel - ich kann mich aber unmöglich überwinden ein Nachbether | ||||||
24 | diser Worte zu seyn. | ||||||
25 | Wer die Gesetze der Freundschaft u. die Gesetze der Liebe unterscheidet, | ||||||
26 | der irret nicht. Das Gesetz der Freundschaft ist das niedrigste | ||||||
27 | Prinzip der Sittlichkeit; das Gesetz der Liebe ist das oberste Prinzip | ||||||
28 | der Sittlichkeit - Daher behauptet Cic[ero] in seinem Buche de oficiis | ||||||
29 | "Keine Räuberbande könne ohne Freundschaft bestehen." | ||||||
30 | Die seinen Nächsten beßernde Liebe ist das oberste Prinzip der | ||||||
31 | Sittlichkeit - Man darf, um sich davon zu überzeugen nur an die | ||||||
32 | Gleichnißrede Iesu "von dem barmherzigen Samariter" denken | ||||||
33 | diese Räuberbande hätte nicht bestehen können Wenn nicht einer an | ||||||
34 | dem andern das allerniedrigste Prinzip der Sittlichkeit auszuüben gewohnt | ||||||
35 | gewesen wären. Der Priester u. Levit giengen vorüber | ||||||
36 | - Der Samariter war ein Thäter des in aller Menschen Herzen | ||||||
37 | durch Gottes Finger geschriebenen Gesetzes der Liebe. Er übte | ||||||
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